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Kathrin Busch 08/04
Bilderschrift und kartographischer Eingriff.
Zum Projekt Atlas - spaces in subjunctive im Kunstraum der Universität Lüneburg
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Vom Kunstraum der Universität Lüneburg im Rahmen von republicart zur Zusammenarbeit eingeladen, unterbreiteten Alice Creischer und Andreas Siekmann den Vorschlag, eine Aktualisierung des 1930 publizierten Atlas Gesellschaft und Wirtschaft von Otto Neurath und Gerd Arntz vorzunehmen.[1] Dieses aus 100 Druckgraphiken und 30 zusätzlichen Texttafeln bestehende Mappenwerk verfolgt in sozialkritischer Absicht, den Anspruch, vermittels bildlicher Darstellung statistischer Daten gesellschaftliche Zusammenhänge zu veranschaulichen, um gleichermaßen zur politischen Bildung wie zur Umgestaltung sozialer Missverhältnisse beizutragen.[2] Erklärtes Ziel ist es, mithilfe verständlicher Repräsentationen gesellschaftlicher Tatsachen soziale Veränderungen zu bewirken. Mit der im Kunstraum begonnenen Aktualisierung des Atlanten wird nicht nur mit Arntz an eine weitestgehend vergessene, linke künstlerische Tradition erinnernd angeknüpft, sondern auch das nicht weniger politisch motivierte bildstatistische Programm des gleichermaßen philosophisch, soziologisch wie ökonomisch geschulten Neurath auf die Probe seiner Wirksamkeit gestellt. Bei der Wiederaufnahme war zum einen leitend, ästhetisch und konzeptuell an die historische Vorlage anzuknüpfen,[3] ohne jedoch auf signifikante Abweichungen und Umlenkungen zu verzichten, durch die das bildpolitische Programm erst eigentlich erkennbar wird. Zu unterstreichen ist diesbezüglich der in der Wiederaufnahme bewusst zurückgewiesene Anspruch einer auf Universalität verpflichteten Fortschrittsgeschichte, die noch im Atlas ausgehend von der "Alten Welt" bis in die Gegenwart reichend die Entwicklung von "Produktionsformen, Gesellschaftsordnungen, Kulturstufen, Lebenshaltungen"[4] als Progression erzählt. Entscheidend ist des weiteren die Veränderung des Kontextes und die Verlagerung der Adressaten: Während Neurath und Arntz sich innerhalb eines Sozialmuseums zwecks Aufklärung an Arbeiter und Arbeiterinnen wendeten, versetzen Creischer und Siekmann den Atlas in den Kunstbereich.[5] Dafür bot sich die Zusammenarbeit mit dem Kunstraum der Universität Lüneburg besonders an, da hier seit Jahren eine interdisziplinäre, kulturwissenschaftlich ausgerichtete Kooperation von Kunst und Forschung praktiziert wird.

Aktualität darf der gemeinsam mit den insgesamt 15 neuen Blättern im Kunstraum[6] zum Abschluss des Projekts ausgestellte Atlas von Neurath und Arntz insofern beanspruchen, als er von der in seiner Relevanz unbestrittenen Einsicht getragen ist, der Zugang zu unserer Wirklichkeit finde sich zunehmend bildhaft vermittelt. Aus der Tatsache, der "moderne Mensch" sei "durch Kino und Illustrationen sehr verwöhnt" [7] folgert Neurath schon 1925, dieser Bildersegen müsse nicht allein der Ablenkung und Unterhaltung, sondern könne "in angenehmster Weise"[8] der Aneignung nützlichen Wissens dienen. Neurath zieht den bildpädagogischen Schluss, man habe zur Vermittlung gesellschaftskundlicher Bildung ebenfalls die Vorzüge "optische[r] Eindrücke"[9] zu nutzen. Wenn er proklamiert: "Das moderne Reklameplakat zeigt uns den Weg!"[10], dann schreckt er nicht davor zurück, eine – wie mit Benjamin zu formulieren wäre – "Rezeption in der Zerstreuung"[11], zur Aufnahme politisch relevanter Kenntnisse vorzuschlagen. Die Verbesserung der Lebensverhältnisse durch Verbreitung von Wissen soll vermittels der sogenannten Wiener Methode der Bildstatistik gewährt werden, die Neurath seit seiner Gründung des Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseums (1925) vorangetrieben und zu dessen Realisierung er 1929 Arntz zum künstlerischen Leiter der graphischen Abteilung bestellt hat. Die Visualisierung sozialökonomischer Daten dient daher nicht allein dem angenehm leichten, fast beiläufigen Erfassen von Kenntnissen, sondern dem Zweck des politischen Eingriffs.[12]

Dieser agitatorischen Ausrichtung hat Neurath seine Untersuchungen zur richtigen Anwendung von Bildern unterstellt: Sie betreffen zum einen die für die Wiener Bildstatistik grundlegende Einführung der mengenlogischen Darstellung, dergemäß eine größere Menge nicht durch ein größeres Symbol, sondern durch eine höhere Anzahl von Figuren visualisiert wird, zum anderen ist entscheidend, was Neurath "sprechende Signaturen"[13] nennt. Statistische Daten werden demgemäß nicht mehr durch Diagramme, in Kurven, Torten oder Säulen, dargestellt, sondern in gegenständlicher, figürlicher Weise wiedergegeben: "menschengruppen werden wirklich durch menschengruppen dargestellt und produktionsmengen wirklich durch die relative anzahl ihrer abbilder."[14] Hatte Neurath den Plan der Bildstatistik nach positivistischen Prinzipien entworfen,[15] so ist es Arntz’ Verdienst, diesen in eine anschauliche Bildersprache übersetzt zu haben.[16] Dabei soll "von allem unnötigen, von allem dekorativen abgesehen und schriftartig, einer klaren typographie ähnlich, der inhalt zur darstellung gebracht"[17] werden. Erst durch Arntz erhält die Bildsprache der Statistik ihr unverwechselbares Gepräge: er vereinfacht und vereinheitlicht die Symbole und führt sie einer systematischen Verwendung zu, in der eine beschränkte Zahl miteinander kombinierbarer Zeichen möglichst durch sich selbst und gemäß der Forderung Neuraths "ohne Erläuterung"[18] verständlich werden soll. Neben der Normierung der Figuren gewährt zudem die Einführung des Linoldrucks die technische Reproduzierbarkeit der einmal entwickelten Typen.[19]

Ziel der Bildersprache ist neben der ikonischen Vermittlung gesellschaftlich relevanter Daten die Steigerung von Reflexivität im Medium visueller Argumentation. Die Durchschlagskraft der visuellen Argumente dank ihrer hohen Plastizität dient der Aufklärung und damit dem Antrieb zur Umgestaltung. Vorausgesetzt ist dabei freilich nicht nur die Übersetzung der Statistiken in Bilder, sondern zuvor der wissenschaftlichen Erkenntnisse in politisch relevante Aussagen.[20] In diesem dezidiert politischen Vorhaben wird einmal mehr deutlich, dass es in der Bildersprache nicht um die scheinbar objektive Abbildung gesellschaftlicher Wirklichkeit, sondern um die Konstruktion ihrer Bedeutung geht. Arntz erwägt die "wichtigkeit der zahl und menge eines gegenstandes für seine bewegungsrichtung und stoßkraft in der gesellschaft"[21] und den Gebrauch der Bildsprache für die "aktivierung des umbildungsprozesses der weltauffassung."[22]

In seiner künstlerischen Arbeit war Arntz den Grundsätzen des politischen Konstruktivismus der 1920er Jahre verpflichtet, zu denen "Techniken der Reduktion, des asketischen Verzichts auf Individualisierung, auf Einfühlung und emotionalen Appell"[23] gehören. Ihr figuratives Verfahren, die Bildgegenstände auf ihre Umrisslinien zu reduzieren, geht einher mit der Zurückweisung räumlicher Perspektive, so dass an die Stelle illusionistischer Wiedergaben das konstruktivistische Prinzip der Analogie von Bildordnung und Gesellschaftsordnung treten kann. Zudem hätten sich die sozialen Widersprüche in einer durch bildliche Gegensätze geprägten Bildsprache zu artikulieren, in die – an der politischen Montage eines Grosz oder Dix geschult – das Prinzip der Konstellation heterogener Elemente eingegangen ist. Insbesondere der von Arntz in bewundernswerter Weise zur Artikulation gesellschaftlicher Antagonismen eingesetzte Linoldruck, überträgt in der Reduktion auf den Schwarz-Weiß-Kontrast die gesellschaftlichen Widersprüche in das bildgebende Verfahren.

Wenn aber die Darstellungsweisen den sozialen Verhältnissen entsprechen und der "riß […] in der bürgerlichen gesellschaft"[24] bildlich aufklaffen soll, gerät die rein zahlenmäßige Darstellungsweise der Bildstatistik schnell an ihre Grenzen. Sie droht die von Arntz ausgebildete dialektische Bildsprache zugunsten rein quantitativer Verhältnisse zu reduzieren. Entsprechend hat Arntz zwischen den "quantitativ-kritischen" Repräsentationen in seiner bildstatistischen Arbeit und der "qualitativ-kritischen" Darstellungsweise in seinen sonstigen Graphiken differenziert, in denen die inhaltliche Darstellung gesellschaftlicher Widersprüche in der antithetischen Bildstruktur ihre formale Entsprechung findet.[25]

Arntz selbst gibt zu bedenken, ob die "darstellung sozialer kämpfe umformend wirken würde auf die methode selbst, die jetzt [d.h. in der Bildstatistik] in einer gewissen ‚objektivität’ angewandt wird."[26] Im bildstatistischen Werk ist das die künstlerische Arbeit von Arntz auszeichnende Prinzip der sich in der formalen Bildgestaltung reflektierenden Bildinhalte zurückgenommen zugunsten des Neurathschen Entwurfes einer sich aus einem festgelegten Bestand von Piktogrammen etablierenden "Bilderschrift", von der er hofft, sie könne berufen sein, "einmal international verwertet zu werden!"[27] Mag sich Neurath mit der Vorstellung der transkulturellen Gültigkeit seiner Bildersprache auch den Vorwurf des Eurozentrismus zugezogen haben,[28] so ist dennoch der Anspruch der Schriftlichkeit bemerkenswert. Das "Schaugetriebe", das dem modernen Menschen einen Großteil seines Wissens visuell vermittelt, und zur Ausrufung eines "Jahrhunderts des Auges"[29] berechtigt, darf nicht nur manipulativen Zwecken überlassen werden, sondern soll in streng methodischer Form angewandt zum Element anderer Wissensformen – und infolgedessen auch einer gewandelten Lebensgestaltung – werden.[30] Dafür muss das Bild jedoch sprachförmig zugerichtet werden: "Es müssen vor allem Bildzeichen geschaffen werden, die so ‚gelesen’ werden können wie von uns allen Buchstaben und von den Kundigen Noten."[31] Für solche lesbare Bilderschrift, orientiert an der ägyptischen Hieroglyphe,[32] ist der Abstraktion so weit zu folgen, dass weder die durch wiedererkennbare Ähnlichkeit vermittelte Lesbarkeit gefährdet wird, noch die "Reize des Malerischen"[33] vom transportierten Gehalt ablenken. Preist man einerseits die Eindringlichkeit und Suggestivität von Bildern, so wird andererseits das Moment ästhetischer Unbestimmtheit ikonischer Repräsentation bemängelt. Das Lockende der Darstellung dient zwar der Anschaulichkeit wie Memorabilität, gleichwohl muss jeder bildnerische Überschuss zugunsten des eindeutigen Sinngehalts gebannt werden: "Nichts ist gefährlicher als ein Zeichen, das manchen Besuchern mehr sagt, als man in Wirklichkeit aussagen wollte."[34] Die Ambivalenz der Neurathschen Bildtheorie liegt an dieser Stelle bloß: Zum einen sollen die Bilder ohne Worte und wie Reklame rezipierbar sein, zum anderen aber kritisches Denkvermögen fördern. Aus diesem Grund bedarf es nicht nur einer Lektüre der Bilder selbst, sondern auch der sie begleitenden Beschriftung. So wie die Entzifferung der Bilder dem Anspruch unmittelbaren Verstehens widerspricht, zeugt die Notwendigkeit zusätzlicher Beschreibung von der gleichermaßen unerwünschten wie unumgänglichen Mehrdeutigkeit bildlicher Symbole. Wiederum erweist sich ein Hinweis auf Benjamin als fruchtbar, hatte dieser Bildbeschriftungen als "Direktiven" bezeichnet, die dem Betrachter eine bestimmte Aufnahme der Bilder vorschreiben.[35] Die Bilder zu sehen genügt nicht, sie müssen gelesen werden. Für sie fungiert die Schrift zugleich als Vorschrift an das Auge. Die Festlegung der Bedeutung etabliert sich aber nach Benjamin auch interikonisch, will sagen durch die Abfolge der Bilder. Entsprechend hat Neurath mit größter Strenge auf der formalen und inhaltlichen Vereinheitlichung oder Kanonisierung der neuen Bildsprache bestanden.[36] Dennoch lässt sich der metaphorische und ästhetische Überschuss der Darstellungen nicht vollständig eliminieren. Vielmehr ist der Versuch, die bildsprachliche Mehrdeutigkeit gemäß der positivistischen Zeichentheorie zu bannen, selbst zweifelhaft und bleibt dem wissenschaftlichen "Ikonoklasmus", gegen den er sich wendet, seinerseits verhaftet. Hinzu kommt, dass komplexe Sachverhalte nicht abbildlich, nur sinnbildlich zur Darstellung gelangen können. Da die Bildzeichen nicht auf Ähnlichkeit beschränkbar sind, sondern symbolische wie allegorische Sinnhöfe bei sich tragen, ist ihre Entzifferung auf historische wie kulturelle Kontexte verwiesen. Die Dekodierung dieser Zeichen muss notfalls erlernt, eine Lektüre der Bilder vorgenommen und ihre konnotative Bedeutung entschlüsselt werden. Widerspricht die Notwendigkeit der Entzifferung auch dem Neurathschen Diktum, die verwendeten Bildzeichen hätten sich mit höchstens drei Blicken dem Betrachter vollständig zu erschließen,[37] so ermöglicht erst sie die Vermittlung einer gegenüber Gemeinplätzen abweichenden Einsicht.

Dieser subversive, gegen ihre unmittelbare Verständlichkeit gerichtete Zug der Bildfindung ist nun aber ein maßgebender Gesichtspunkt für die Aktualisierung geworden. In der Neufassung des Atlanten waren die Zurschaustellung des historischen Index der Bildzeichen, ihr irreduzibler ästhetischer Überschuss sowie der Anspruch aktiver Interpretationsarbeit beim Rezipienten richtungsweisend. Kann man für den Bildatlas neben der graphischen Gestaltung die Ebene der wissenschaftlichen Datenerhebung sowie der gesellschaftspolitischen Intention differenzieren, so setzt die Neugestaltung auch kritisch gegenüber den beiden letzteren an, indem der positivistische Wissenschaftsbegriff ebenso wie ein objektivistisches Verständnis der Statistik zurückgewiesen und gegenüber der sozialreformerischen Absicht einer Volksaufklärung Distanz genommen wird. So wie man aber Neurath zugute halten kann, dass er in Anbetracht einer zunehmend visuell bestimmten Welt es nicht versäumt hat, die Macht der Bilder abzuschätzen, lässt sich auch die Neuauflage als Mittel verstehen in die "Politik der Sichtbarkeit"[38] einzugreifen. In dem Maße wie die visuelle Vermittlung und massenmediale Verbreitung von gesellschaftlichem Wissen überhand genommen hat, wird die Frage nach "Produktion bzw. Kontrolle von Bildern und ihrer Bedeutungsmuster"[39] zur politisch relevanten Frage. In diesem Bilderkampf wird die Statistik entgegen ihrer scheinbaren Objektivität strategisch genutzt und die fragmentarische Auswahl der darzustellenden Sachverhalte wird – als bruchstückhaft lesbar – gegen eine Ideologie vollständiger Erkennbarkeit gewendet.[40] Indem die Künstler der Herausforderung bildstatistischer Wissensvermittlung im Element der Kunst begegnen, soll "das Gebot wissenschaftlicher Objektivität" zugunsten der Einmischung "in die permanente Ideologisierung"[41] zurückgewiesen werden. Aufgrund der nicht verleugneten Mehrdeutigkeit und Unbestimmtheit sowie der Verweigerung einer systematischen Darstellung der ausgewählten Datenmengen, markieren die Künstler ihre Skepsis gegenüber der Statistik, deren Anwendungsbereich sich – paradoxerweise auch durch Neuraths Piktogramme – von der politischen Aufklärungsarbeit immer stärker in die Markt- und Meinungsforschung verlagert hat. Angesichts der als Kategorienfehler zu bezeichnenden Durchdringung aller gesellschaftlicher Felder durch ökonomische Prinzipien, dient die Reformulierung politisch relevanter Fragen in der Sprache der Kunst dem Versuch, diese dem Anökonomischen zuzuschlagen. Auch die Gestalt des Wissens bleibt von dieser Rekontextualisierung nicht unbenommen, da sie es mit dem Siegel einer gewissen Unverwertbarkeit[42], zumindest aber Ineffizienz beschlägt. Die Aktualisierung des Atlanten dient weniger seiner ästhetischen Korrektur, als vielmehr einer Befürwortung der Strategie, Wissen in politisch relevante Bilder umzumünzen. Sie wäre demnach einer jener "Schritte zur Flucht von der Arbeit zum Tun"[43], die sich künstlerisch in einer Verschiebung vom Werk zum Handeln – von der poiesis zur praxis – niederschlägt.

Seit Jameson angesichts der zunehmenden Unübersichtlichkeit die Notwendigkeit des "Kartographierens der Wahrnehmung und der Erkenntnis (cognitive mapping)"[44] eingeklagt hat, um angesichts konstatierter Orientierungslosigkeit "eine neue Handlungs- und Kampfesfähigkeit"[45] zurück zu gewinnen, lässt sich auf eine ganze Reihe kartographischer Projekte im Kunstfeld zurückschauen. Dem Wunsch nach systematischer Orientierungshilfe verweigert sich jedoch die Aktualisierung des Atlas mit ihren bisher 15 Tafeln[46] zugunsten der Konfrontation mit einigen fragmentarischen Daten.[47] Die Künstler befragen nicht nur die Objektivität statistischer Visualisierung, sondern thematisieren die Relativität karthographischer Repräsentationen, wenn sie der Tafel Staaten und Bevölkerung 1500 nicht etwa eine Graphik mit genaueren Daten gegenüberstellen, sondern die Reproduktion einer historischen Karte aus dem beginnenden 16. Jahrhundert einschleusen. Sie macht nicht nur das historische Weltbild anschaulich, sondern verweist auch auf den engen Zusammenhang von kartographischer Erschließung des Raumes, seiner kriegerischen Eroberung und kolonialistischen Vereinnahmung. Außerdem findet die Reflexion unterschiedlicher geographischer Repräsentationssysteme Eingang in die Aktualisierung der Tafel Kartographische Übersicht, welche eine damals neue und für den Wiener Atlas maßgebliche flächentreue Weltkarten-Projektion veranschaulicht. Der damaligen Innovation wird die große Varianz heutiger kartographischer Entwürfe gegenüber gestellt, an denen sich neben neuen technischen Möglichkeiten auch die Funktionalisierungen unterschiedlicher Darstellungsformen abzeichnen.[48] In der neuen Fassung soll außerdem die historische Signatur der Piktogramme nicht wie bei Neurath und Arntz möglichst zurückgenommen, sondern ausgestellt und lesbar werden, wenn das Blatt Reallöhne 1928 in der neuen Variante Ökonomische Ungleichheit 2001 die Reichen als müßiggängerische Golfspieler darstellt, die Mittelschicht als eifrige Angestellte und die Ärmsten prekärerweise mit Einkaufstüten abgebildet als Konsumenten identifizierbar sind. Andere Tafeln werden gemäß politischer Veränderungen umgestaltet, die es beispielsweise notwendig machen, Migrationsbewegungen auf eine verschärfte Einwanderungspolitik zu beziehen. So wird aus dem Blatt Wanderbewegung wichtiger Länder 1920-27 die Festung Europa, welche die Künstler in zwei Tafeln visualisieren: zum einen bilden sie die Anzahl von Todesfällen bei Flüchtlingen, die sich auf den Wegen nach Europa und an seinen Grenzen ereignen, ab, zum anderen zeigen sie die Zunahme von Abschiebungen im Vergleich zur Zahl der Asylsuchenden aufgrund gesetzlicher Verschärfungen in Europa. Die Thematisierung gewaltsamer Abschiebung findet sich auch in Gesellschaftsgliederung Lüneburg aktuell thematisiert. Parallel zur Darstellung der Bevölkerungsschichten, in die Studenten und Touristen ebenso aufgenommen sind wie Asylsuchende und Abschiebungen, ist ein Text gesetzt, der von angestrebten Maßnahmen der niedersächsischen Regierung berichtet, um die Zahl missglückter Ausweisungen zu reduzieren. Auffallend für diese Graphik ist neben der textuellen Begleitung, dass das Neurathsche Prinzip der schnell erfassbaren Mengendarstellung unterwandert wird. Der Betrachter ist zum Lesen, Abzählen und Zusammenrechnen angehalten, um den Sinn der Daten zu erfassen. Die mengenlogische Visualisierung wird auf einem anderen Blatt ins scheinbar Unlesbare verschoben, wenn bei der Aktualisierung von Streiks und Aussperrungen die Symbole so schmal geraten, dass ihre zahlenmäßige Entsprechung nicht mehr rekonstruierbar ist. Das von Arntz entwickelte Bildzeichen der geballten Faust steht für 10 Millionen verlorene Arbeitstage und wird in dieser Maßeinheit übernommen, um anhand der verschwindend kleinen Bruchstücke deutlich zu machen, wie sehr die Arbeitsniederlegung als politisches Kampfmittel heute an Bedeutung eingebüßt hat. Dieser Minimierung der Bildzeichen lässt sich als gegenläufiges Bildverfahren ihre extreme Häufung zur Seite stellen. Die Veranschaulichung der Kolonialreiche bei Neurath und Arntz wurde in eine 6 Tafeln umfassende Darstellung der Reparationsforderungen der ‚African World Reparations / Repatriations Truth Commission" Konferenz von Durban, 31. Aug. – 8. Sept 2001 an die ehemaligen Kolonialstaaten transformiert. Sie bilden 1700 in Ketten gelegte Fäuste ab, die für 4.800.000.000.000 Arbeitsstunden stehen, die – mit je 10 Cent vergütet – eine Reparationszahlung von 777 Billionen US-Dollar ergeben. Die allererste Faust ist im Unterschied zu allen anderen nicht schwarz, sondern zu zweidrittel in rot gehalten und bezeichnet die abzuziehende Verschuldung Afrikas, die nun gegenüber den erhobenen Forderungen vergleichsweise gering erscheint. Die Undarstellbarkeit des Ausmaßes der kolonialen Ausbeutung einschließlich des Sklavenhandels, welche sich in der unermesslich hohen Summe niederschlägt, führt die ikonische Darstellung ad absurdum. Während die ermittelten Zahlen demnach in einigen Graphiken, gegen die Statistik gewendet, vor allem symbolischen Wert haben, sind andere Blätter wie Minenproduzenten in Deutschland und Verlegte Landminen, Minenopfer, Minenpatente ob der recherchierten Informationen erwähnenswert.[49]  Hier wird detailliert nachgezeichnet, wie trotz Verbots deutsche Firmen in Minenproduktion und Export einbezogen sind. Das zweite Blatt stellt den verlegten Minen und Opfern, aufgeschlüsselt nach Ländern, die produzierenden Firmen und ihre minentechnischen Patente zur Seite.

In jedem Falle lohnt es sich, die angeblich schnelle Rezipierbarkeit der Bilderschrift durch eine genaue und aufmerksame Lektüre zu ersetzen, zudem die Interpretierbarkeit der Graphiken auf die gegenseitige Erhellung von alten und neuen Tafeln angewiesen ist. Denn erst durch den zeitlichen Abstand teilen sich die wissenschaftlichen und ästhetischen Entscheidungen mit. Hier wird anschaulich, was Benjamin den "historische[n] Index der Bilder"[50] nennt. Dabei meint er weniger, "dass sie einer bestimmten Zeit angehören", sondern vielmehr, "dass sie erst in einer bestimmten Zeit zur Lesbarkeit"[51] gelangen. So mag die Zusammenschau von neuen und alten Blättern dem entsprechen oder das ermöglichen, was Benjamin ein dialektisches Bild nennt, in dem "das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt".[52]Dass die Zusammenstellung wie ein dialektisches Bild "den Stempel des kritischen, gefährlichen Moments"[53] trage, sei der weiteren Bearbeitung gewünscht.


[1] Das Ergebnis dieser Zusammenarbeit wurde im Kunstraum der Universität Lüneburg in einer Ausstellung präsentiert und findet sich in Atlas. Spaces in subjunctive, hrsg. v. Christoph Behnke, Diethelm Stoller, Anna Schlosser u. Ulf Wuggenig, Lüneburg 2004, dokumentiert.

[2] Seit mehreren Jahren schon haben sich Creischer und Siekmann dem der Kölner Gruppe progressiver Künstler zugehörigen Arntz verbunden gezeigt, indem sie seine Druckgraphik in die gemeinsam kuratierte Ausstellung Die Gewalt ist der Rand aller Dinge. Subjektverhältnisse, politische Militanz und künstlerische Vorgehensweisen (Generali Foundation 2002) einbezogen, und Siekmann in seine Zeichnungen direkte Bezugnahmen auf Arntz und die politische Kunst der 1920er Jahre eingearbeitet hat (vgl. die Ausstellung Aus: Gesellschaft mit beschränkter Haftung, Portikus, Frankfurt).

[3] Aus diesem Grund wurde darauf verzichtet, das von Neurath entwickelte bildstatistische Konzept zu revidieren, vgl. zu einem solchen Vorhaben Karl H. Müller, Symbole, Statistik, Coputer, Design. Otto Neuraths Bildpädagogik im Computerzeitalter, Wien 1991.

[4] So der Untertitel des bildstatistischen Elementarwerks.

[5] Damit reihen sie sich in die durch Orientierungsbedürfnis oder Globalisierungskritik auch im Kunstfeld vermehrt auftretende Kartierungs- oder mapping-Projekte ein, vgl. beispielsweise Paolo Bianchi u. Sabine Folie (Hg.), Atlas Mapping. Künstler als Kartographen – Kartographie als Kultur, Wien 1997 u. Belinda Grace Gardner, "Neue Landkarten für undurchsichtige Zeiten. Künstler auf der Suche nach Orientierung", in: Kunstzeitung 89 (2004), S. 1.

[6] Der Atlas von Neurath und Arntz ergänzt durch die in Lüneburg erarbeiteten Blätter wurde von Creischer und Siekmann auch in der Ausstellung Schritte zur Flucht von der Arbeit zum Tun (6.März-16.Mai 2004) Museum Ludwig, Köln gezeigt.

[7] Otto Neurath, "Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum in Wien", in: ders., Gesammelte bildpädagogische Schriften, hrsg. v. Rudolf Haller u. Robin Kinross, Wien 1991 (= Neurath, Bd. 3), S. 1-17; hier: S. 1.

[8] Ebd.

[9] Ebd.

[10] Ebd.

[11] Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt a.M. 1986, S. 41.

[12] In dieser Ausrichtung auf das Handeln, das auf eine exakte Darstellung der Sachverhalte zugunsten der Vermittlung von praktisch relevantem Wissen zielt, hat man die Nähe Neuraths zum Pragmatismus gesehen; vgl. Thomas Mormann, "Neuraths anticartesische Konzeption von Sprache und Wissenschaft", in: Otto Neurath. Rationalität, Planung, Vielfalt, hrsg. v. Elisabeth Nemeth u. Richard Heinrich, Wien/Berlin 1999, S. 32-61.

[13] Neurath, Bd. 3, S. 57.

[14] Gerd Arntz, "zur methode des gesellschafts- und wirtschaftsmuseum in wien", in: a-z. Organ der Gruppe progressiver Künstler, Heft 9 (1930), S. 34 (Reprint in: Franz W. Seifert. Schriften, hrsg. v. Uli Bohnen u. Dirk Backes, Berlin 1978)

[15] Neurath gehörte dem Wiener Kreis an, dessen "wissenschaftliche Weltauffassung" er um das Moment des Sozialaufklärerischen ergänzt, vgl. Otto Neurath, Wissenschaftliche Weltauffassung, Sozialismus und Logischer Empirismus, Frankfurt a.M. 1979.

[16] Der Beitrag von Arntz an dem Erfolg des Mappenwerks wird oftmals unterschätzt, vgl. diesbezüglich Ulf Wuggenig, Christoph Behnke u. Diethelm Stoller, "Kunst, Gesellschaft und Wirtschaft 1930/2004", in: Atlas. Spaces in subjunctive, hrsg. v. dies. u. Anna Schlosser, Lüneburg 2004, S. 6f.

[17] Arntz, "zur methode des gesellschafts- und wirtschaftsmuseum in wien", a.a.O., S. 34.

[18] Neurath, Bd. 3, S. 57.

[19] Vgl. H. U. Bohnen, Das Gesetz der Welt ist die Änderung der Welt. Die rheinische Gruppe progressiver Künstler (1918-1933), Berlin 1976, S. 124.

[20] Vgl. Frank Hartmann, "Bildersprache", in: ders. u. Erwin K. Bauer (Hg.), Bildersprache. Otto Neurath. Visualisierungen, Wien 2002, S. 50.

[21] Arntz, "zur methode des gesellschafts- und wirtschaftsmuseum in wien", a.a.O., S. 34.

[22] Ebd.

[23] Katrin Sello, "Das herausgenommene Ich", in: Politische Konstruktivisten. Die ‚Gruppe progressiver Künstler’ Köln, hrsg. v. Neue Gesellschaft für bildende Kunst, Berlin 1975.

[24] Gerd Arntz, "bewegung in kunst und statistik", in: a-z. Organ der Gruppe progressiver Künstler, Heft 8 (1930), S. 29.

[25] Vgl. Flip Bool, "Figurativer Konstruktivismus und kritische Grafik von 1924 bis 1971", in: Arbeiterbildung in der Zwischenkriegszeit, a.a.O., S. 219-225.

[26] Arntz, "zur methode des gesellschafts- und wirtschaftsmuseum in wien", a.a.O., S. 34.

[27] Neurath, Bd. 3, S. 59.

[28] Vgl. Wuggenig, Behnke u. Stoller, "Kunst, Gesellschaft und Wirtschaft 1930/2004", a.a.O., S. 15.

[29] Otto Neurath, "Statistische Hieroglyphe", in: ders., Bd. 3, S. 40-50; hier: S. 40.

[30] Während für Benjamin die Auswirkungen der neuen Bildtechniken auf die Wahrnehmungsstrukturen leitend ist, konstatiert Neurath bemerkenswerterweise  Effekte auf der Ebene der Denkvorgänge  und Erkenntnisformen.

[31] Ebd.

[32] Vgl. Otto Neurath, "Von der Hieroglyphe zu Isotypen", in: ders., Bd. 3, S. 636-645. In Bezug auf Neuraths Verständnis der altägyptischen Hieroglyphenschrift muß man von einem "produktiven Mißverständnis" (Hartmann, "Bildersprache", a.a.O., S. 79) sprechen, weil Neurath die Abbildhaftigkeit der Hieroglyphen überschätzt.

[33] Neurath, Bd. 3, S. 60.

[34] Otto Neurath, "Schwarzweißgraphik", in: ders., Bd. 3, S. 51-55; hier: S. 55.

[35] Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, a.a.O., S. 21.

[36] Die Systematisierung und Internationalisierung der Bildersprache schlug sich in den 1930er Jahren in der Bezeichnung ISOTYPE (International Sytem of Typographic Picture Education) nieder und wurde von Neurath nach seiner Emigration aus Österreich in Holland gemeinsam mit Arntz fortgesetzt, vgl. diesbezüglich Hartmann, "Bildersprache", a.a.O., S. 65ff.

[37] Vgl. Neurath, Bd. 3, S. 257.

[38] Vgl. Tom Holert (Hg.), Imageneering. Visuelle Kultur und Politik der Sichtbarkeit, Köln 2000.

[39] Siekmann, Aus: Gesellschaft mit beschränkter Haftung, S. 22.

[40] Angesichts dieser Fragen gab es Differenzen zwischen den Künstlern und den Wissenschaftlern der Lüneburger Arbeitsgruppe, vgl. Wuggenig, Behnke u. Stoller, "Kunst, Gesellschaft und Wirtschaft 1930/2004", a.a.O., S. 14.

[41] Alice Creischer u. Andreas Siekmann, Schritte zur Flucht von der Arbeit zum Tun, Köln 2004, S. 62.

[42] Vgl. ebd., S. 10.

[43] So der Titel der Kölner Ausstellung, in der Atlas und Aktualisierung ebenfalls gezeigt wurden.

[44] Frederic Jameson, "Postmoderne – zur Logik der Kultur im Spätkapitalismus", in: Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels, hrsg. v. A. Huyssen u. K.R. Scherpe, Frankfurt a.M. 1986, S. 96.

[45] Ebd., S. 100.

[46] Vier weitere Tafeln zu Weltwirtschaft, Globalisierung und Gentechnik befinden sich in Arbeit, außerdem soll das Projekt nach Angabe der Künstler in verschiedenen Kooperationen fortgeführt werden.

[47] Hierin ließe sich auch ein Unterschied zu dem sich ebenso kritisch wie politisch verstehende Atlas der Globalisierung von Le monde diplomatique ausmachen, vgl. diesbezüglich das Interview von Creischer und Siekmann mit dem verantwortlichen Redakteur Philippe Rekacewicz, in: Schritte zur Flucht von der Arbeit zum Tun, a.a.O., S. 41-43.

[48] Vgl. Larissa Buchholz u. Sophia Prinz, "Kartografische Repräsentationen", in: Atlas – spaces in subjunctive, a.a.O., S. 32-36.

[49] Die Graphiken antworten auf das Blatt Rüstungen vor dem Kriege und jetzt des Wiener Atlas.

[50] Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, Gesammelte Schriften, Bd. V.1, Frankfurt a.M. 1991, S. 577.

[51] Ebd.

[52] Ebd., S. 578.

[53] Ebd., S. 578.

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