Vom Kunstraum
der Universität Lüneburg im Rahmen von republicart
zur Zusammenarbeit eingeladen, unterbreiteten Alice
Creischer und Andreas Siekmann den Vorschlag, eine Aktualisierung
des 1930 publizierten Atlas Gesellschaft
und Wirtschaft von Otto Neurath und Gerd Arntz vorzunehmen.
Dieses aus 100 Druckgraphiken und 30 zusätzlichen Texttafeln
bestehende Mappenwerk verfolgt in sozialkritischer Absicht,
den Anspruch, vermittels bildlicher Darstellung statistischer
Daten gesellschaftliche Zusammenhänge zu veranschaulichen,
um gleichermaßen zur politischen Bildung wie zur Umgestaltung
sozialer Missverhältnisse beizutragen.
Erklärtes Ziel ist es, mithilfe verständlicher Repräsentationen
gesellschaftlicher Tatsachen soziale Veränderungen
zu bewirken. Mit der im Kunstraum begonnenen Aktualisierung des Atlanten wird nicht nur mit
Arntz an eine weitestgehend vergessene, linke künstlerische
Tradition erinnernd angeknüpft, sondern auch das nicht
weniger politisch motivierte bildstatistische Programm
des gleichermaßen philosophisch, soziologisch wie ökonomisch
geschulten Neurath auf die Probe seiner Wirksamkeit
gestellt. Bei der Wiederaufnahme war zum einen leitend,
ästhetisch und konzeptuell an die historische Vorlage
anzuknüpfen,
ohne jedoch auf signifikante Abweichungen und Umlenkungen
zu verzichten, durch die das bildpolitische Programm
erst eigentlich erkennbar wird. Zu unterstreichen ist
diesbezüglich der in der Wiederaufnahme bewusst zurückgewiesene
Anspruch einer auf Universalität verpflichteten Fortschrittsgeschichte,
die noch im Atlas ausgehend von der "Alten Welt"
bis in die Gegenwart reichend die Entwicklung von "Produktionsformen,
Gesellschaftsordnungen, Kulturstufen, Lebenshaltungen"
als Progression erzählt. Entscheidend ist des weiteren
die Veränderung des Kontextes und die Verlagerung der
Adressaten: Während Neurath und Arntz sich innerhalb
eines Sozialmuseums zwecks Aufklärung an Arbeiter und
Arbeiterinnen wendeten, versetzen Creischer und Siekmann
den Atlas in den Kunstbereich.
Dafür bot sich die Zusammenarbeit mit dem Kunstraum
der Universität Lüneburg besonders an, da hier seit
Jahren eine interdisziplinäre, kulturwissenschaftlich
ausgerichtete Kooperation von Kunst und Forschung praktiziert
wird.
Aktualität darf der
gemeinsam mit den insgesamt 15 neuen Blättern im Kunstraum
zum Abschluss des Projekts ausgestellte Atlas von Neurath
und Arntz insofern beanspruchen, als er von der in seiner
Relevanz unbestrittenen Einsicht getragen ist, der
Zugang zu unserer Wirklichkeit finde sich zunehmend
bildhaft vermittelt. Aus der Tatsache, der "moderne
Mensch" sei "durch Kino und Illustrationen
sehr verwöhnt"
folgert Neurath schon 1925, dieser Bildersegen müsse
nicht allein der Ablenkung und Unterhaltung, sondern
könne "in angenehmster Weise"
der Aneignung nützlichen Wissens dienen. Neurath zieht
den bildpädagogischen Schluss, man habe zur Vermittlung
gesellschaftskundlicher Bildung ebenfalls die Vorzüge
"optische[r]
Eindrücke"
zu nutzen. Wenn er proklamiert: "Das moderne Reklameplakat
zeigt uns den Weg!", dann schreckt er nicht
davor zurück, eine – wie mit Benjamin zu formulieren
wäre – "Rezeption
in der Zerstreuung",
zur Aufnahme politisch relevanter Kenntnisse vorzuschlagen.
Die Verbesserung der Lebensverhältnisse durch Verbreitung
von Wissen soll vermittels der sogenannten Wiener
Methode der Bildstatistik gewährt werden, die Neurath
seit seiner Gründung des Gesellschafts-
und Wirtschaftsmuseums (1925) vorangetrieben und
zu dessen Realisierung er 1929 Arntz zum künstlerischen
Leiter der graphischen Abteilung bestellt hat. Die Visualisierung
sozialökonomischer Daten dient daher nicht allein dem
angenehm leichten, fast beiläufigen Erfassen von Kenntnissen,
sondern dem Zweck des politischen Eingriffs.
Dieser agitatorischen
Ausrichtung hat Neurath seine Untersuchungen zur richtigen
Anwendung von Bildern unterstellt: Sie betreffen zum
einen die für die Wiener
Bildstatistik grundlegende Einführung der mengenlogischen
Darstellung, dergemäß eine größere Menge nicht durch
ein größeres Symbol, sondern durch eine höhere Anzahl
von Figuren visualisiert wird, zum anderen ist entscheidend,
was Neurath "sprechende Signaturen"
nennt. Statistische Daten werden demgemäß nicht mehr
durch Diagramme, in Kurven, Torten oder Säulen, dargestellt,
sondern in gegenständlicher, figürlicher Weise wiedergegeben:
"menschengruppen werden wirklich durch menschengruppen
dargestellt und produktionsmengen wirklich durch die
relative anzahl ihrer abbilder."
Hatte Neurath den Plan der Bildstatistik nach positivistischen
Prinzipien entworfen, so ist es Arntz’ Verdienst,
diesen in eine anschauliche Bildersprache übersetzt
zu haben.
Dabei soll "von allem unnötigen, von allem dekorativen
abgesehen und schriftartig, einer klaren typographie
ähnlich, der inhalt zur darstellung gebracht" werden. Erst durch Arntz
erhält die Bildsprache der Statistik ihr unverwechselbares
Gepräge: er vereinfacht und vereinheitlicht die Symbole
und führt sie einer systematischen Verwendung zu, in
der eine beschränkte Zahl miteinander kombinierbarer
Zeichen möglichst durch sich selbst und gemäß der Forderung
Neuraths "ohne Erläuterung"
verständlich werden soll. Neben der Normierung der Figuren
gewährt zudem die Einführung des Linoldrucks die technische
Reproduzierbarkeit der einmal entwickelten Typen.
Ziel der Bildersprache
ist neben der ikonischen Vermittlung gesellschaftlich
relevanter Daten die Steigerung von Reflexivität im
Medium visueller Argumentation. Die Durchschlagskraft
der visuellen Argumente dank ihrer hohen Plastizität
dient der Aufklärung und damit dem Antrieb zur Umgestaltung.
Vorausgesetzt ist dabei freilich nicht nur die Übersetzung
der Statistiken in Bilder, sondern zuvor der wissenschaftlichen
Erkenntnisse in politisch relevante Aussagen.
In diesem dezidiert politischen Vorhaben wird einmal
mehr deutlich, dass es in der Bildersprache nicht um
die scheinbar objektive Abbildung gesellschaftlicher
Wirklichkeit, sondern um die Konstruktion ihrer Bedeutung
geht. Arntz erwägt die "wichtigkeit der zahl und
menge eines gegenstandes für seine bewegungsrichtung
und stoßkraft in der gesellschaft"
und den Gebrauch der Bildsprache für die "aktivierung
des umbildungsprozesses der weltauffassung."
In seiner künstlerischen
Arbeit war Arntz den Grundsätzen des politischen Konstruktivismus
der 1920er Jahre verpflichtet, zu denen "Techniken
der Reduktion, des asketischen Verzichts auf Individualisierung,
auf Einfühlung und emotionalen Appell"
gehören. Ihr figuratives Verfahren, die Bildgegenstände
auf ihre Umrisslinien zu reduzieren, geht einher mit
der Zurückweisung räumlicher Perspektive, so dass an
die Stelle illusionistischer Wiedergaben das konstruktivistische
Prinzip der Analogie von Bildordnung und Gesellschaftsordnung
treten kann. Zudem hätten sich die sozialen Widersprüche
in einer durch bildliche Gegensätze geprägten Bildsprache
zu artikulieren, in die – an der politischen Montage
eines Grosz oder Dix geschult – das Prinzip der Konstellation
heterogener Elemente eingegangen ist. Insbesondere der
von Arntz in bewundernswerter Weise zur Artikulation
gesellschaftlicher Antagonismen eingesetzte Linoldruck,
überträgt in der Reduktion auf den Schwarz-Weiß-Kontrast
die gesellschaftlichen Widersprüche in das bildgebende
Verfahren.
Wenn aber die Darstellungsweisen
den sozialen Verhältnissen entsprechen und der "riß
[…] in der bürgerlichen gesellschaft"
bildlich aufklaffen soll, gerät die rein zahlenmäßige
Darstellungsweise der Bildstatistik schnell an ihre
Grenzen. Sie droht die von Arntz ausgebildete dialektische
Bildsprache zugunsten rein quantitativer Verhältnisse
zu reduzieren. Entsprechend hat Arntz zwischen den "quantitativ-kritischen"
Repräsentationen in seiner bildstatistischen Arbeit
und der "qualitativ-kritischen" Darstellungsweise
in seinen sonstigen Graphiken differenziert, in denen
die inhaltliche Darstellung gesellschaftlicher Widersprüche
in der antithetischen Bildstruktur ihre formale Entsprechung
findet.
Arntz selbst gibt
zu bedenken, ob die "darstellung sozialer kämpfe
umformend wirken würde auf die methode selbst, die
jetzt [d.h. in der Bildstatistik] in einer gewissen
‚objektivität’ angewandt wird."
Im bildstatistischen Werk ist das die künstlerische
Arbeit von Arntz auszeichnende Prinzip der sich in der
formalen Bildgestaltung reflektierenden Bildinhalte
zurückgenommen zugunsten des Neurathschen Entwurfes
einer sich aus einem festgelegten Bestand von Piktogrammen
etablierenden "Bilderschrift",
von der er hofft, sie könne berufen sein, "einmal
international
verwertet zu werden!"
Mag sich Neurath mit der Vorstellung der transkulturellen
Gültigkeit seiner Bildersprache auch den Vorwurf des
Eurozentrismus zugezogen haben,
so ist dennoch der Anspruch der Schriftlichkeit bemerkenswert.
Das "Schaugetriebe", das dem modernen Menschen
einen Großteil seines Wissens visuell vermittelt, und
zur Ausrufung eines "Jahrhunderts des Auges" berechtigt, darf nicht
nur manipulativen Zwecken überlassen werden, sondern
soll in streng methodischer Form angewandt zum Element
anderer Wissensformen – und infolgedessen auch einer
gewandelten Lebensgestaltung – werden.
Dafür muss das Bild jedoch sprachförmig zugerichtet
werden: "Es müssen vor allem Bildzeichen geschaffen
werden, die so ‚gelesen’ werden können wie von uns
allen Buchstaben und von den Kundigen Noten."
Für solche lesbare Bilderschrift, orientiert an der
ägyptischen Hieroglyphe,
ist der Abstraktion so weit zu folgen, dass weder die
durch wiedererkennbare Ähnlichkeit vermittelte Lesbarkeit
gefährdet wird, noch die "Reize des Malerischen"
vom transportierten Gehalt ablenken. Preist man einerseits
die Eindringlichkeit und Suggestivität von Bildern,
so wird andererseits das Moment ästhetischer Unbestimmtheit
ikonischer Repräsentation bemängelt. Das Lockende der
Darstellung dient zwar der Anschaulichkeit wie Memorabilität,
gleichwohl muss jeder bildnerische Überschuss zugunsten
des eindeutigen Sinngehalts gebannt werden: "Nichts
ist gefährlicher als ein Zeichen, das manchen Besuchern
mehr sagt, als man in Wirklichkeit aussagen wollte."
Die Ambivalenz der Neurathschen Bildtheorie liegt an
dieser Stelle bloß: Zum einen sollen die Bilder ohne
Worte und wie Reklame rezipierbar sein, zum anderen
aber kritisches Denkvermögen fördern. Aus diesem Grund
bedarf es nicht nur einer Lektüre der Bilder selbst,
sondern auch der sie begleitenden Beschriftung. So
wie die Entzifferung der Bilder dem Anspruch unmittelbaren
Verstehens widerspricht, zeugt die Notwendigkeit zusätzlicher
Beschreibung von der gleichermaßen unerwünschten wie
unumgänglichen Mehrdeutigkeit bildlicher Symbole. Wiederum
erweist sich ein Hinweis auf Benjamin als fruchtbar,
hatte dieser Bildbeschriftungen als "Direktiven"
bezeichnet, die dem Betrachter eine bestimmte Aufnahme
der Bilder vorschreiben.
Die Bilder zu sehen genügt nicht, sie müssen gelesen
werden. Für sie fungiert die Schrift zugleich als Vorschrift
an das Auge. Die Festlegung der Bedeutung etabliert
sich aber nach Benjamin auch interikonisch, will sagen
durch die Abfolge der Bilder. Entsprechend hat Neurath
mit größter Strenge auf der formalen und inhaltlichen
Vereinheitlichung oder Kanonisierung der neuen Bildsprache
bestanden.
Dennoch lässt sich der metaphorische und ästhetische
Überschuss der Darstellungen nicht vollständig eliminieren.
Vielmehr ist der Versuch, die bildsprachliche Mehrdeutigkeit
gemäß der positivistischen Zeichentheorie zu bannen,
selbst zweifelhaft und bleibt dem wissenschaftlichen
"Ikonoklasmus", gegen den er sich wendet,
seinerseits verhaftet. Hinzu kommt, dass komplexe Sachverhalte
nicht abbildlich, nur sinnbildlich zur Darstellung
gelangen können. Da die Bildzeichen nicht auf Ähnlichkeit
beschränkbar sind, sondern symbolische wie allegorische
Sinnhöfe bei sich tragen, ist ihre Entzifferung auf
historische wie kulturelle Kontexte verwiesen. Die Dekodierung
dieser Zeichen muss notfalls erlernt, eine Lektüre der
Bilder vorgenommen und ihre konnotative Bedeutung entschlüsselt
werden. Widerspricht die Notwendigkeit der Entzifferung
auch dem Neurathschen Diktum, die verwendeten Bildzeichen
hätten sich mit höchstens drei Blicken dem Betrachter
vollständig zu erschließen,
so ermöglicht erst sie die Vermittlung einer gegenüber
Gemeinplätzen abweichenden Einsicht.
Dieser subversive,
gegen ihre unmittelbare Verständlichkeit gerichtete
Zug der Bildfindung ist nun aber ein maßgebender Gesichtspunkt
für die Aktualisierung geworden. In der Neufassung des
Atlanten waren die Zurschaustellung des historischen
Index der Bildzeichen, ihr irreduzibler ästhetischer
Überschuss sowie der Anspruch aktiver Interpretationsarbeit
beim Rezipienten richtungsweisend. Kann man für den
Bildatlas neben der graphischen Gestaltung die Ebene
der wissenschaftlichen Datenerhebung sowie der gesellschaftspolitischen
Intention differenzieren, so setzt die Neugestaltung
auch kritisch gegenüber den beiden letzteren an, indem
der positivistische Wissenschaftsbegriff ebenso wie
ein objektivistisches Verständnis der Statistik zurückgewiesen
und gegenüber der sozialreformerischen Absicht einer
Volksaufklärung Distanz genommen wird. So wie man aber
Neurath zugute halten kann, dass er in Anbetracht einer
zunehmend visuell bestimmten Welt es nicht versäumt
hat, die Macht der Bilder abzuschätzen, lässt sich auch
die Neuauflage als Mittel verstehen in die "Politik
der Sichtbarkeit"
einzugreifen. In dem Maße wie die visuelle Vermittlung
und massenmediale Verbreitung von gesellschaftlichem
Wissen überhand genommen hat, wird die Frage nach "Produktion
bzw. Kontrolle von Bildern und ihrer Bedeutungsmuster"
zur politisch relevanten Frage. In diesem Bilderkampf
wird die Statistik entgegen ihrer scheinbaren Objektivität
strategisch genutzt und die fragmentarische Auswahl
der darzustellenden Sachverhalte wird – als bruchstückhaft
lesbar – gegen eine Ideologie vollständiger Erkennbarkeit
gewendet. Indem die Künstler der
Herausforderung bildstatistischer Wissensvermittlung
im Element der Kunst begegnen, soll "das Gebot
wissenschaftlicher Objektivität" zugunsten der
Einmischung "in die permanente Ideologisierung"
zurückgewiesen werden. Aufgrund der nicht verleugneten
Mehrdeutigkeit und Unbestimmtheit sowie der Verweigerung
einer systematischen Darstellung der ausgewählten Datenmengen,
markieren die Künstler ihre Skepsis gegenüber der Statistik,
deren Anwendungsbereich sich – paradoxerweise auch durch
Neuraths Piktogramme – von der politischen Aufklärungsarbeit
immer stärker in die Markt- und Meinungsforschung verlagert
hat. Angesichts der als Kategorienfehler zu bezeichnenden
Durchdringung aller gesellschaftlicher Felder durch
ökonomische Prinzipien, dient die Reformulierung politisch
relevanter Fragen in der Sprache der Kunst dem Versuch,
diese dem Anökonomischen zuzuschlagen. Auch die Gestalt
des Wissens bleibt von dieser Rekontextualisierung nicht
unbenommen, da sie es mit dem Siegel einer gewissen
Unverwertbarkeit,
zumindest aber Ineffizienz beschlägt. Die Aktualisierung
des Atlanten dient weniger seiner ästhetischen Korrektur,
als vielmehr einer Befürwortung der Strategie, Wissen
in politisch relevante Bilder umzumünzen. Sie wäre demnach
einer jener "Schritte zur Flucht von der Arbeit
zum Tun",
die sich künstlerisch in einer Verschiebung vom Werk
zum Handeln – von der poiesis
zur praxis – niederschlägt.
Seit Jameson angesichts
der zunehmenden Unübersichtlichkeit die Notwendigkeit
des "Kartographierens der Wahrnehmung und der Erkenntnis
(cognitive mapping)"
eingeklagt hat, um angesichts konstatierter Orientierungslosigkeit
"eine neue Handlungs- und Kampfesfähigkeit"
zurück zu gewinnen, lässt sich auf eine ganze Reihe
kartographischer Projekte im Kunstfeld zurückschauen.
Dem Wunsch nach systematischer Orientierungshilfe verweigert
sich jedoch die Aktualisierung des Atlas mit ihren bisher
15 Tafeln
zugunsten der Konfrontation mit einigen fragmentarischen
Daten.
Die Künstler befragen nicht nur die Objektivität statistischer
Visualisierung, sondern thematisieren die Relativität
karthographischer Repräsentationen, wenn sie der Tafel
Staaten und Bevölkerung
1500 nicht etwa eine Graphik mit genaueren Daten
gegenüberstellen, sondern die Reproduktion einer historischen
Karte aus dem beginnenden 16. Jahrhundert einschleusen.
Sie macht nicht nur das historische Weltbild anschaulich,
sondern verweist auch auf den engen Zusammenhang von
kartographischer Erschließung des Raumes, seiner kriegerischen
Eroberung und kolonialistischen Vereinnahmung. Außerdem
findet die Reflexion unterschiedlicher geographischer
Repräsentationssysteme Eingang in die Aktualisierung
der Tafel Kartographische
Übersicht, welche eine damals neue und für den Wiener
Atlas maßgebliche flächentreue Weltkarten-Projektion
veranschaulicht. Der damaligen Innovation wird die
große Varianz heutiger kartographischer Entwürfe gegenüber
gestellt, an denen sich neben neuen technischen Möglichkeiten
auch die Funktionalisierungen unterschiedlicher Darstellungsformen
abzeichnen.
In der neuen Fassung soll außerdem die historische Signatur
der Piktogramme nicht wie bei Neurath und Arntz möglichst
zurückgenommen, sondern ausgestellt und lesbar werden,
wenn das Blatt Reallöhne
1928 in der neuen Variante Ökonomische
Ungleichheit 2001 die Reichen als müßiggängerische
Golfspieler darstellt, die Mittelschicht als eifrige
Angestellte und die Ärmsten prekärerweise mit Einkaufstüten
abgebildet als Konsumenten identifizierbar sind. Andere
Tafeln werden gemäß politischer Veränderungen umgestaltet,
die es beispielsweise notwendig machen, Migrationsbewegungen
auf eine verschärfte Einwanderungspolitik zu beziehen.
So wird aus dem Blatt Wanderbewegung wichtiger Länder 1920-27 die Festung Europa, welche die Künstler in zwei Tafeln visualisieren:
zum einen bilden sie die Anzahl von Todesfällen bei
Flüchtlingen, die sich auf den Wegen nach Europa und
an seinen Grenzen ereignen, ab, zum anderen zeigen sie
die Zunahme von Abschiebungen im Vergleich zur Zahl
der Asylsuchenden aufgrund gesetzlicher Verschärfungen
in Europa. Die Thematisierung gewaltsamer Abschiebung
findet sich auch in Gesellschaftsgliederung
Lüneburg aktuell thematisiert. Parallel zur Darstellung
der Bevölkerungsschichten, in die Studenten und Touristen
ebenso aufgenommen sind wie Asylsuchende und Abschiebungen,
ist ein Text gesetzt, der von angestrebten Maßnahmen
der niedersächsischen Regierung berichtet, um die Zahl
missglückter Ausweisungen zu reduzieren. Auffallend
für diese Graphik ist neben der textuellen Begleitung,
dass das Neurathsche Prinzip der schnell erfassbaren
Mengendarstellung unterwandert wird. Der Betrachter
ist zum Lesen, Abzählen und Zusammenrechnen angehalten,
um den Sinn der Daten zu erfassen. Die mengenlogische
Visualisierung wird auf einem anderen Blatt ins scheinbar
Unlesbare verschoben, wenn bei der Aktualisierung von
Streiks und Aussperrungen die Symbole so schmal geraten, dass ihre
zahlenmäßige Entsprechung nicht mehr rekonstruierbar
ist. Das von Arntz entwickelte Bildzeichen der geballten
Faust steht für 10 Millionen verlorene Arbeitstage und
wird in dieser Maßeinheit übernommen, um anhand der
verschwindend kleinen Bruchstücke deutlich zu machen,
wie sehr die Arbeitsniederlegung als politisches Kampfmittel
heute an Bedeutung eingebüßt hat. Dieser Minimierung
der Bildzeichen lässt sich als gegenläufiges Bildverfahren
ihre extreme Häufung zur Seite stellen. Die Veranschaulichung
der Kolonialreiche
bei Neurath und Arntz wurde in eine 6 Tafeln umfassende
Darstellung der Reparationsforderungen der ‚African World Reparations / Repatriations
Truth Commission" Konferenz von Durban, 31. Aug.
– 8. Sept 2001 an die ehemaligen Kolonialstaaten
transformiert. Sie bilden 1700 in Ketten gelegte Fäuste
ab, die für 4.800.000.000.000 Arbeitsstunden stehen,
die – mit je 10 Cent vergütet – eine Reparationszahlung
von 777 Billionen US-Dollar ergeben. Die allererste
Faust ist im Unterschied zu allen anderen nicht schwarz,
sondern zu zweidrittel in rot gehalten und bezeichnet
die abzuziehende Verschuldung Afrikas, die nun gegenüber
den erhobenen Forderungen vergleichsweise gering erscheint.
Die Undarstellbarkeit des Ausmaßes der kolonialen Ausbeutung
einschließlich des Sklavenhandels, welche sich in der
unermesslich hohen Summe niederschlägt, führt die ikonische
Darstellung ad absurdum. Während die ermittelten Zahlen
demnach in einigen Graphiken, gegen die Statistik gewendet,
vor allem symbolischen Wert haben, sind andere Blätter
wie Minenproduzenten in Deutschland und Verlegte Landminen, Minenopfer, Minenpatente ob der recherchierten
Informationen erwähnenswert.
Hier wird detailliert nachgezeichnet, wie trotz
Verbots deutsche Firmen in Minenproduktion und Export
einbezogen sind. Das zweite Blatt stellt den verlegten
Minen und Opfern, aufgeschlüsselt nach Ländern, die
produzierenden Firmen und ihre minentechnischen Patente
zur Seite.
In jedem Falle lohnt
es sich, die angeblich schnelle Rezipierbarkeit der
Bilderschrift durch eine genaue und aufmerksame Lektüre
zu ersetzen, zudem die Interpretierbarkeit der Graphiken
auf die gegenseitige Erhellung von alten und neuen Tafeln
angewiesen ist. Denn erst durch den zeitlichen Abstand
teilen sich die wissenschaftlichen und ästhetischen
Entscheidungen mit. Hier wird anschaulich, was Benjamin
den "historische[n] Index der Bilder"
nennt. Dabei meint er weniger, "dass sie einer
bestimmten Zeit angehören", sondern vielmehr,
"dass sie erst in einer bestimmten Zeit zur Lesbarkeit" gelangen. So mag die Zusammenschau
von neuen und alten Blättern dem entsprechen oder das
ermöglichen, was Benjamin ein dialektisches Bild nennt,
in dem "das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu
einer Konstellation zusammentritt".Dass
die Zusammenstellung wie ein dialektisches Bild "den
Stempel des kritischen, gefährlichen Moments"
trage, sei der weiteren Bearbeitung gewünscht.
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