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10 2004

Der Autor als Verräter

Gerald Raunig

"Verräter zu sein ist schwierig, es ist ein schöpferischer Akt. Es verlangt, dass man seine Identität preisgibt, sein Gesicht verliert. Man muss von der Bildfläche verschwinden, unbekannt werden."
(Gilles Deleuze/Claire Parnet)
[1]

Walter Benjamins Aufsatz "Der Autor als Produzent" ist eine Attacke gegen die "linksbürgerliche Intelligenz" im Deutschland der 1920er und frühen 1930er Jahre. Ihr Hauptangriffspunkt ist neben der Neuen Sachlichkeit[2] eine weithin in Vergessenheit geratene Bewegung der 1910er Jahre im deutschsprachigen Raum, in deren kollektivem Namen allerdings ein sehr aktueller Anklang mitschwingt: Als "Aktivismus" bezeichnete sich ein vor allem literarisch und literaturkritisch geprägter Diskurs im Schatten des Expressionismus[3] sowie der darunter firmierende lose Zusammenhang vor allem von Literaten, dem sich für gewisse Abschnitte ihrer Arbeit auch so verschiedene Autoren wie Heinrich Mann, Gustav Landauer, Max Brod, Ernst Bloch zuordneten. Der Kreis um den Publizisten Kurt Hiller entwickelte sich seit 1910, ab 1914 auch konkret unter dem Label "Aktivismus". Während Hiller und sein Kreis heute kaum bekannt sind, konnte sich Benjamin 1934 noch darauf verlassen, dass die Figur Hiller und die dazugehörigen Positionen seinen RezipientInnen noch geläufig waren. Vor allem die wüsten Beschimpfungen und der Spott der Berliner Dadaisten gegen die "Aktivisten" waren um 1920 von einer bemerkenswerten Vehemenz gewesen und ob ihrer verbalen Brachialität wahrscheinlich auch noch Mitte der 1930er im Gedächtnis geblieben.[4]

Als "Theoretiker des Aktivismus" wird Hiller von Benjamin im "Autor als Produzenten" als exemplarischer Fall einer vermeintlich linksintellektuellen, jedoch konterrevolutionären Tendenz vorgeführt, weil diese nur der Gesinnung nach, aber nicht in ihrer Produktion selbst revolutionär sei.[5] Diese Differenz zwischen Tendenz und Technik und die Vernachlässigung der Letzteren ist eine Problematik des "Aktivismus", die irreführende Selbstbezeichnung eine andere. Was nämlich während des Ersten Weltkriegs und in den Jahren danach als "Aktivismus" verkauft wurde, war in der Selbstdefinition Hillers "religiöser Sozialismus"[6] oder - in meiner Auslegung - vitalistischer Geistismus. Neben wortreichen Appellen und Anrufungen des "jungen Geschlechts" (Heinrich Mann), der "Neuen Volkstümlichkeit" (Kurt Hiller) oder des Volks als "heiliger Masse" (Ludwig Rubiner) verstanden sich die "Aktivisten" hauptsächlich auf die Hypostasierung des Geistes und der "Geistigen". Der Begriff der "Geistigen", anfänglich ein taktisches Substitut für "Intellektuelle", wurde durch Hiller und andere nach und nach substanzialisiert und schließlich als "charakterologischer Typus"[7] verstanden. Die Texte des Aktivismus[8], von Heinrich Manns Urtext "Geist und Tat" über Hillers manifestartige "Philosophie des Ziels" bis Ludwig Rubiners "Der Dichter greift in die Politik" arbeiten sich auffällig oft an Themen der Religion, der Mystik und der Kirche ab; der Geist, der in den Geistigen spukte, schien eher der heilige als der Weltgeist Hegels zu sein. Hiller selbst setzt anstelle der Revolution das Paradies als utopisches Ziel. "Weiht euch, Geistige, endlich - dem Dienst des Geistes; des heiligen Geistes, des tätigen Geistes."[9]

Die beiden Hauptaspekte von Benjamins Frage nach dem "Ort des Intellektuellen" sind einerseits die Positionierung der Intellektuellen zum Proletariat und andererseits die Art und Weise ihrer Organisierung. Benjamins Kritik am "Aktivismus" besteht daher vor allem in dessen Selbstpositionierung "zwischen den Klassen". Diese Position neben dem Proletariat, die Position von Gönnern, ideologischen Mäzenen, sei eine unmögliche,[10] das Prinzip einer derartigen Kollektivbildung, die jenseits von jedem Ansatz der Organisierung Literaten um den Begriff des "Geistigen" sammelt, sei schlicht und einfach ein reaktionäres.[11] Noch evidenter wird diese zeitlose Kritik, wenn wir zusätzlich zu Benjamins technisch-formalem Insistieren auf der Veränderung des Produktionsapparats die keineswegs so revolutionäre Haltung der "Aktivisten" mit einbeziehen: Beizeiten sind ihre Texte national geprägt, oft auch antidemokratisch ‑ und antidemokratische Tendenzen sind im Umkreis Hillers auch keineswegs als radikaldemokratisch oder linksradikal interpretierbar. "Der Aktivismus will keine Kratie des Demos, also der Massen und Mittelmäßigkeit, sondern eine Kratie des Geistes, also der Besten."[12] Hillers Prinzip der Geistesaristokratie propagiert eine Herrschaft des Geistes, was heißen soll: der Geistigen, der Besten, schließlich sogar des "neuen deutschen Herrenhauses"[13].

Bei solch eindeutiger "Gesinnung" erhebt sich doch die Frage, warum Benjamin die Autoren des "Aktivismus" überhaupt als Linksbürgerliche verkaufen wollte und konnte. Ich vermute, das hängt nicht nur mit der textimmanenten Intention Benjamins, auf die ich noch zurückkommen möchte, sondern vor allem mit den breiteren Aktivitäten eines zweiten Flügels des "Aktivismus" zusammen, der sich zwar selten so nannte, dessen Organ jedoch, die Wochenzeitschrift Die Aktion, in den 1910ern einen nicht unbedeutenden Einfluss auf linksintellektuelle und linksradikale Bewegungen im deutschsprachigen Raum hatte.[14] Die Aktion und ihre ProtagonistInnen betätigten sich zwar auch nicht primär aktivistisch im heutigen Sinn, dafür waren sie aber politisch aktiver und vor allem kantiger als der Kreis um Kurt Hiller. Die Aktion war in ihren ersten Jahren bis Kriegsbeginn neben dem Sturm die führende expressionistische Zeitschrift mit klar antimilitaristischer Tendenz, während des Krieges die einzige oppositionelle Literatur- und Kunstzeitschrift, die mit verdeckendem Schreiben und anderen Mitteln erstaunlich souverän die Zensur umging, und mit dem Ende des Krieges wurde sie mehr und mehr zu einem Organ der linksradikalen Opposition mit einem Naheverhältnis zu Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Ihr Herausgeber und Chefredakteur Franz Pfemfert radikalisierte sich und die Zeitschrift von der Gründung 1911 an über die revolutionären Kriegs- und Nachkriegsjahre bis zu Spartakusaufstand und Räterepublik in mehreren Schüben.[15]

Während der literarische Aktivismus um Hiller von einem eher diffusen Änderungswillen geprägt ist, verknüpft Pfemfert in der Aktion von Anfang an expressionistische Literatur und zeitgenössische Kulturpolitik mit (historischen) sozialrevolutionären Texten zu einer seltenen Kombination. Im Mittelpunkt steht die antimilitaristische Kritik der Zeitschrift, die in den ersten Jahren der Aktion vor allem die kriegstreiberische Funktion der liberalen Presse und der Sozialdemokratie und die affirmative Haltung von Schriftsteller-Kollegen im Rahmen der Vorgeschichte des Kriegs beleuchtet. Daneben werden frühe sozialrevolutionäre Texte veröffentlicht, anarchistische Texte aus Russland, Aufsätze von Lassalle und Reclus. Auch die späteren Dadaisten Hugo Ball, Hans Richter und Raoul Hausmann sind mit Beiträgen in der Aktion vertreten.

Neben dem schrittweisen ideologisch begründeten Ausscheiden von Mitarbeitern aus früheren Zusammenhängen (der Zeitschrift Demokrat und der Demokratischen Vereinigung) verzeichnet die Aktion in den ersten Jahren ständig Zuläufe an AutorInnen und AbonnentInnen. Zumindest bis zur Distanzierung Pfemferts von Hiller 1913[16] war die Aktion auch so etwas wie ein Sammelbecken für die Literaten, die sich später mit Hiller unter dem Label Aktivismus sammeln sollten. Hillers geististische Ideen waren Grund genug für Pfemfert, im dritten Jahr der Zeitschrift einen Schlussstrich unter die Zusammenarbeit zu ziehen. Gegen die reaktionäre Demokratie-Ablehnung Hillers verstand sich Pfemferts Antiparlamentarismus als Propagierung der Rätedemokratie, gegen den absoluten Pazifismus von Hillers Logokratie (der Revolution der Worte) wandte Pfemfert einen militanten Antimilitarismus, der sich im Laufe des Krieges zunehmend revolutionär und konkret rätekommunistisch entwickelte, gegen Hillers Deutschnationalismus positionierte sich Pfemfert antinational und antiantisemitisch.

In den ersten Monaten ihrer Erscheinung, genauer von Heft 3 bis Heft 16, erschien die "Aktion" mit dem programmatischen Zusatztitel "Publikationsorgan der Organisation der Intelligenz für Deutschland".[17] Auch wenn dieser Zusatztitel bald wieder verschwand, die Zeitschrift gewann im Laufe des Jahrzehnts zusehends organisierende Funktion für einen gemischten Zusammenhang von KünstlerInnen und Intellektuellen. Während der literarisch-aktivistische Kreis um Hiller - Benjamin beschreibt das korrekt - eine "beliebige Anzahl von Privatexistenzen [umfasste], ohne den mindesten Anhalt für ihre Organisierung zu bieten"[18], war Franz Pfemfert Drehscheibe nicht nur der Aktion, sondern auch einer Reihe anderer Versuche der "Organisation der Intelligenz": Nach dem Start der Aktion als Wochenzeitschrift im Februar 1911 folgte 1912 die Verlagsgründung: Zuerst verlegte Pfemfert expressionistische Literatur, ab 1916 kamen mit der "Politischen Aktions-Bibliothek" Revolutionstexte von Lenin, Marx, Liebknecht und anderen hinzu. Schließlich erkannte Pfemfert auch die Notwendigkeit für einen realen Ort, eine Öffentlichkeit jenseits des Gedruckten, und eröffnete 1917 mit seiner Frau Alexandra Ramm-Pfemfert und deren Schwester die Berliner "Aktionsbuchhandlung", die für Ausstellungen und Veranstaltungen offen stand.

Aus der antimilitaristischen Agitation gegen die Wehrmachtsvorlage von 1913[19] entsteht sogar eine frühe Blüte der Kommunikationsguerilla: Um die Proteste gegen die Erweiterung der Wehrmachtsbefugnisse in Berlin auf eine breitere Basis zu stellen, fingiert Pfemfert die Erklärung einer bürgerlichen Antinationale "An den deutschen Reichstag" gegen die neuen Wehrgesetze. Diese Erklärung wird nicht nur über die Aktion, sondern auch per Flugblatt verbreitet, was schließlich über den Aspekt der medialen Gegeninformation hinaus auch zu einer tatsächlichen Kundgebung führt. Da in Frankreich zur gleichen Zeit eine Wehrmachtsvorlage debattiert wird, weitet sich die Aktion um eine französische Parallelerklärung unter der Leitung des späteren Literaturnobelpreisträgers Anatole France auch dorthin aus.[20] Hier ereignet sich also der Versuch der Internationalisierung des antimilitaristischen Widerstands, der auch mit Mitteln der Medienguerilla für eine Verbreiterung und internationalen Organisierung antinationaler Gefüge kämpft; allerdings mit wenig Erfolg, wie die Geschichte zeigt.

Während Hillers "Aktivisten" immer wieder die Partei des Geistes[21], des deutschen Geistes[22] oder der Geistigen[23] beschworen, gründete Pfemfert schon 1915 die "Antinationale Sozialisten Partei, Gruppe Deutschland" (ASP). Die antikapitalistische, antinationale, sozialistische Kleinstpartei war bis Kriegsende "verdeckt tätig", am 16. November 1918 trat sie mittels Manifest in der Aktion an die Öffentlichkeit.[24] Sie schaffte es wohl nie über den Status einer Interessengemeinschaft von ein paar engagierten KünstlerInnen hinaus, und dennoch scheint die Umkehrung des gängigen Verhältnisses zwischen Partei und Zeitung eine interessante Konstellation: Statt dass eine Partei ihr publizistisches Organ schafft, gründet die Zeitschrift im fortschreitenden Prozess der Organisierung eine Partei. Über die Kollektivität und über die Quantität der Verbreitung der Unternehmen um die "Aktion" lässt sich zwar streiten, Benjamins Frage nach der Organisierung muss im Fall Pfemferts aber als Organisationsprozess linker Intellektueller in der zweiten Hälfte der 1910er Jahre durchaus positiv beantwortet werden, vor allem wegen der beschriebenen Versuche, im Umkreis der Aktion und über die Zeitung hinausgehend an organisatorischer Verkettung und Artikulation zu arbeiten.

Das gesamte Spektrum des deutschen "Aktivismus" erscheint jedenfalls als ein recht disparates Gefüge, das - grob skizziert ‑ aus einem rechten Aktivismus des Geistes gespeist wird, der manchmal bis in Grenzbereiche des Antisemitischen[25], Rassistischen[26] und Protofaschistischen[27] abgleitet, und aus einem linken Aktivismus der Aktion, die ausgehend von ihrer Basis als Literaturzeitschrift sich immer weiter radikalisierte und zu einer Agitationsplattform für linksradikale Politiken wurde. Die Akteure changierten vor allem in der ersten Hälfte der 1910er Jahre des Öfteren zwischen den ausfransenden Lagern, und natürlich gab es auch rechts von Hiller "Aktivismen" aller Art. Wenn wir nun auf Benjamins Aufsatz zurückkommen, der auf einen Pariser Vortragsentwurf[28] aus dem April 1934 zurückgeht, findet sich die Antwort auf die Frage, warum gerade Hiller diese späte Aufmerksamkeit zuteil wird, vielleicht auch im Kontext dieses Vortrags.

Benjamin verwendet die Folie des "Aktivismus" hauptsächlich, um in einem kommunistischen Kontext anerkannt linke, aber rein inhaltistisch-agitatorische Strategien, das heißt implizit vor allem die Spielarten des sozialistischen Realismus zu kritisieren. Im kommunistischen "Institut zum Studium des Faschismus" in Paris, das von der Komintern kontrolliert wurde, hätte er sich mit seinem derart ausgerichteten Vortrag auf Glatteis befunden, das wusste er gut. Denn nicht erst die Kulturpolitik Stalins, sondern auch die unterschiedlichen Positionen Lenins, Bogdanovs und Lunatscharskis waren trotz äußerst unterschiedlicher Vorstellungen von proletarischer Kultur alle auf die Produktion und Präsentation von proletarischen Inhalten gerichtet gewesen, und auch in Deutschland gab es in den 1920er und 1930er Jahren in kommunistischen Kreisen eine Linie der Forcierung des revolutionären Inhalts zulasten der Form. Benjamin, der vor allem Technik und organisierende Funktion der Kunstpraxis im Auge hatte, vertrat eindeutig eine minoritäre Position. Die reaktionäre Haltung Hillers hätte sich gerade vor einem Publikum, das formalen Überlegungen skeptisch gegenüber stand, als negativer Annäherungspunkt und Substitut für einen Angriff auf den sozialistischen Realismus geeignet. Auch wenn er gänzlich anderes repräsentiert als die inhaltistische Position des sozialistischen Realismus, Hiller vertritt in Benjamins Vortrag die Position des Inhaltisten, der Sätze wie diese geschrieben hat: "Aber in Wahrheit sind alle wirklich großen Kunstwerke [...] groß gewesen nicht durch die Vollkommenheit ihres spezifisch Kunsthaften, sondern [...] durch die Erhabenheit ihres Was, ihrer Idee, ihres Ziels, ihres Ethos. [...] Zieht man von einem ihrer den Gehalt, die Idee, das Moralische ab, so dass ihr ›Gestaltetes‹ bleibt, ‑ dann bleibt ein Schmarren!"[29] Der alte unfruchtbare Gegensatz von Inhalt und Form durchzieht Hillers Schreiben, bei allem Pathos des Eingreifens bleibt das "Was des Wollens" sein höchstes Kriterium: "Form nun, als solche, ist leer"[30], "wesentlich bleibt, was gestaltet wird"[31]. In der Position des deutschen "Aktivisten" klingt damit zwar eine Debatte an, die auch in der sowjetischen Kulturpolitik geläufig war, sie bleibt aber zugleich aufgrund ihrer idealistischen Ausrichtung für materialistische Haltungen völlig unanknüpfbar. Damit wird der Diskurs um Hiller auch inhaltlich zu einer geeigneten Folie für Benjamin, um die Praxen Bert Brechts und Sergej Tretjakovs vor diesem Hintergrund als positive Gegenbeispiele der Organisierung und der Veränderung des Produktionsapparats herauszustellen.

Um noch ein paar Sätze lang bei der Negativfolie zu verharren und gleichzeitig auch auf die für Benjamin zentrale Frage zu kommen, die Stellung des "Autors als Produzenten" oder, weiter gefasst, die Stellung von Intellektuellen und KünstlerInnen im Produktionsprozess zu untersuchen: In der von Foucault entwickelten Unterscheidung von "universalen" und "spezifischen Intellektuellen"[32] wäre die Position Hillers die eines Repräsentanten des Universalen. Das Geistige entspricht damit einer universalen Wahrheit, deren Träger, die Geistigen, repräsentieren eine Universalität, die im Gegensatz zur unbewussten Universalität des Proletariats dessen bewusste und ausgearbeitete Form zu sein sucht. Die Geistigen als universale Intellektuelle wären hier die weithin sichtbaren Vorbilder, beispielgebend und herausleuchtend aus der dunklen Form des Proletariats. Foucault beschreibt - auch hierin passt das Beispiel von Hillers literarischem "Aktivismus" - den universalen Intellektuellen vor allem anhand der Figur des Schriftstellers und die Schwelle des Schreibens als sakralisierendes Merkzeichen des Intellektuellen.

Diese Figur, die SprecherInnen impliziert, die die stumme Wahrheit anderer aussprechen, muss in emanzipatorisch-egalitären Zusammenhängen notwendigerweise unter Beschuss geraten. Die Inhalte, so Benjamin, die politische Tendenz fungieren gegenrevolutionär, solange Produktionsinstrumente, -formen und -apparate, das heißt auch das Verhältnis der "Geistigen" als universale Intellektuelle zum Proletariat unverändert bleiben. Nicht nur am Beispiel des "Aktivismus" wird das klar, auch anhand der Neuen Sachlichkeit beschreibt Benjamin, wie selbst die Fotografien des Elends zum Gegenstand des Genusses werden, wie die künstlerische Prozessierung einer politischen Situation "immer neue Effekte zur Unterhaltung des Publikums abzugewinnen" vermag, wie also der bürgerliche Produktions- und Publikationsapparat mithilfe der Figur von KünstlerInnen/Intellektuellen neben/über dem Proletariat revolutionäre Themen zu assimilieren, sogar zu propagieren imstande ist.[33]

Die schriftstellerische Arbeit in der Position der TrägerInnen des Gesetzes und KämpferInnen für die Gerechtigkeit, für das Proletariat ist eine Anmaßung, der Ort der universalen Intellektuellen ein unmöglicher. Wenn die Solidarität der Intellektuellen mit dem Proletariat immer nur eine vermittelte sein kann, müssen aufgrund sozialer und Bildungsprivilegien dazu gewordene bürgerliche Intellektuelle nach Benjamin "Verräter an ihrer Ursprungsklasse" werden.[34] Dieser notwendige Verrat besteht in der Verwandlung von Intellektuellen, die den Produktionsapparat mit noch so revolutionären Inhalten lediglich beliefern, in IngenieurInnen, die den Produktionsapparat verändern, die in Benjamins Formulierung ihre Aufgabe darin erblicken, "diesen den Zwecken der proletarischen Revolution anzupassen"[35].

Für eine Erneuerung dieser Forderung Benjamins, den Produktionsapparat nicht zu beliefern, sondern ihn zu verändern, scheinen mir beide Aspekte gleichermaßen bedeutsam: Der erste Teil der Forderung, den Produktionsapparat nicht zu beliefern, wäre mithilfe von Deleuzes Kritik der Repräsentation zu aktualisieren, vor allem einer Kritik des Rahmens medialer Repräsentation und der Funktion, die Intellektuelle und KünstlerInnen innerhalb dieses Rahmens ausfüllen. Der zweite Teil der Forderung, nämlich den Produktionsapparat auch zu verändern, findet sich in einer erweiterten Form bei Foucaults Anspruch an die spezifischen Intellektuellen, eine neue Politik der Wahrheit zu konstituieren. Sowohl bei Deleuze als auch bei Foucault klingen Benjamins Figuren und Begrifflichkeiten nach: Bei Deleuze ist es der Topos des Verrats, mit dem die Intelligenz ihre Klasse verlässt[36], bei Foucault der "Spezialist", der von Benjamin wiederum aus den begrifflichen Werkzeugkästen der russischen Produktivisten übernommen wurde.

Gegen Foucaults Annahme vom Verschwinden des großen Schriftstellers, des universalen Intellektuellen sind in den letzten Jahrzehnten immer neue Metamorphosen dieses Typus aufgetaucht, noch immer in der Pose der autonomen Künstler und Denker, tatsächlich jedoch in heteronomer Unterordnung unter Gefüge, in deren Rahmen ihre Figuren bestimmte Funktionen erfüllen.[37] Gegen diese Pseudo-Revivals des klassischen bürgerlichen, des universalen Intellektuellen, der zu allem gefragt wird und auch zu allem etwas zu sagen hat, vor allem an der Oberfläche der Medien und der instrumentellen Think Tanks, geht es darum, diese medialen und politischen Strukturen als Produktionsapparate nicht mit immer neuen Inhalten zu beliefern, sondern die Belieferung zu verweigern, aus der Maschine des Spektakels zu verschwinden, das Spektakel zu verraten.

Das impliziert bis zu einem gewissen Grad, insofern Intellektuelle in dieses Spektakel involviert sind, auch einen Verrat an sich selbst. Über die klassisch marxistische Formulierung bei Benjamin hinausgehend könnte die Bewegung des "Verrats an der bürgerlichen Klasse" also allgemein mit den Worten von Deleuze/Parnet beschrieben werden als die Position eines "Verräter[s] an seinem eigenen Reich, an seinem Geschlecht, an seiner Klasse, seiner Mehrheit"[38]. Seine/ihre bürgerliche Ursprungsklasse zu verraten und den Produktionsapparat der proletarischen Revolution anzupassen hieße heute in erster Linie, vom Rahmen der Repräsentation abzufallen. Wenn sich in den Raster der möglichen Bilder und Aussagen von vornherein nur Akzeptables einpassen lässt, und dieses Akzeptable von vornherein rekuperiert ist, stellt sich die Frage nach einer zeitgenössischen Form des Verrats. Gegen den Mechanismus des medialen Rampenlichts, das die Inhalte heute in noch viel radikalerer Art assimiliert, als die Reportage der Neuen Sachlichkeit das vermochte, müsste es darum gehen, von der Bildfläche zu verschwinden, unbekannt zu werden, die Spuren der Prominenz zu verwischen. Nicht im Kampf der Intellektuellen um Hegemonie in den Mainstream-Medien liegt der Schlüssel zur Veränderung, sondern in einer Verweigerung dieses Schaukampfes, einer Verweigerung der Rolle von KommentatorInnen und StichwortgeberInnen im Rahmen von medialen Spektakeln. Das Verhältnis zu diesem Rahmen zu unterbrechen, bestenfalls durch solche Unterbrechungen auch eine Form des Störgeräusches zu entwickeln, damit den Holzklotz der Sabotage in den Apparat der Kommunikation zu werfen, darin besteht Deleuzes Adaption der Forderung, den Produktionsapparat nicht zu beliefern: "Schöpferisch sein ist stets etwas anderes gewesen als kommunizieren. Das Wichtigste wird vielleicht sein, leere Zwischenräume der Nicht-Kommunikation zu schaffen, störende Unterbrechungen, um der Kontrolle zu entgehen."[39]

Pre-Release aus Gerald Raunig, Kunst und Revolution. Künstlerischer Aktivismus im langen 20. Jahrhundert, Wien: Turia + Kant 2005


[1] Deleuze/Parnet, Dialoge, 53

[2] In einem Ausschnitt eines älteren Texts von 1931, den Benjamin selbst kryptisch als Zitat eines "einsichtigen Kritikers" im "Autor als Produzenten" wiedergibt, ist das Ziel seiner Attacken auf "die proletarische Mimikry des zerfallenden Bürgertums" die Lyrik Kästners, Tucholskys und Mehrings. Vgl. Benjamin, Gesammelte Werke, III, 280f.

[3] Ursula Baumeister (Die Aktion 1911-1932, 43) bestimmt den Aktivismus als ästhetisches Programm und kulturradikalen Flügel des Expressionismus.

[4] Raoul Hausmann beschimpfte die "Aktivisten" etwa als "Handlungsgehilfen der Moralidiotie des Rechtsstaats" und schlug vor, "diese schleimblasentreibenden Tröpfe" zu ertränken "im Unflat ihrer so grässlich ernsthaften sechzigbändigen Werke" (zit. nach Scholz, Pinsel und Dolch, 345).

[5] Benjamin, "Der Autor als Produzent", 689

[6] Rothe, Der Aktivismus 1915‑1920, 18

[7] Benjamin, "Der Autor als Produzent", 690

[8] vgl. etwa die aufschlussreiche Textsammlung Der Aktivismus 1915-1920, deren Herausgeber Wolfgang Rothe den "Aktivismus" im Jahr 1969 gegen die 1968er-Bewegung in seiner Einleitung als "respektgebietende Äußerung des deutschen Geistes" (21) bezeichnet.

[9] Hiller, "Philosophie des Ziels", 42

[10] vgl. Benjamin, "Der Autor als Produzent", 691

[11] ebd.,  690

[12] Hiller, "Verwirklichung des Geistes im Staat", zit. nach von Bockel, Kurt Hiller und die Gruppe Revolutionärer Pazifisten (1926-1933), 25

[13] Hiller, "Philosophie des Ziels", 53

[14] Benjamin war die Aktion übrigens – auch wenn er sie im "Autor als Produzenten" nicht erwähnt (vielleicht wegen den häufigen antidogmatischen und lenin- und stalinkritischen Beiträgen in der Aktion) – sehr wohl bekannt, er hatte dort auch Beiträge veröffentlicht. Außerdem war der Aktions-Herausgeber Pfemfert auch schon Verleger des "Anfang" gewesen, jener Zeitschrift der Jugendbewegung, an der Benjamin am Anfang des Jahrzehnts beteiligt war.

[15] Zu Franz Pfemferts Leben und Wirken vgl. Schulenburg, "Franz Pfemfert. Zur Erinnerung an einen revolutionären Intellektuellen"; Baumeister, Die Aktion 1911-1932; Piscator, "Die politische Bedeutung der Aktion".

[16] vgl. die beiden Pfemfert-Artikel im dritten Jahrgang der Aktion: "Die Wir des Doktor Hiller", Die Aktion 1913, 637f. und "Der Karriere-Revolteur", Die Aktion 1913, 1129-1136

[17] Schon in der ersten Ausgabe stand in einer kurzen Notiz zur Blattlinie zu lesen: "Die Aktion will den imposanten Gedanken der ‚Organisierung der Intelligenz’ fördern und dem lange verpönten Wort ‚Kulturkampf’ (in einem freilich nicht bloß kirchenpolitischen Sinne) wieder zu seinem alten Glanze verhelfen." (zit. nach Schulenburg, "Franz Pfemfert. Zur Erinnerung an einen revolutionären Intellektuellen")

[18] Benjamin, "Der Autor als Produzent", 690

[19] Baumeister, Die Aktion 1911-1932, 102 f., beschreibt Pfemferts Strategie als "Schaffung einer Gegenöffentlichkeit zur Wehrmachtsvorlage".

[20] ebd., 103

[21] Heinrich Mann, "Das junge Geschlecht", 97

[22] Hiller, "Philosophie des Ziels", 39

[23] ebd., 43

[24] vgl. Schulenburg, "Franz Pfemfert. Zur Erinnerung an einen revolutionären Intellektuellen", 43‑45

[25] vgl. etwa Hiller, Philosophie des Ziels, 52

[26] vgl. etwa Rubiner, Die Änderung der Welt, 66

[27] Hiller, Philosophie des Ziels, 53

[28] Der Vortrag dürfte aus nicht weiter bekannten Gründen nicht stattgefunden haben. Vgl. die Anmerkungen der Herausgeber in Benjamin, Gesammelte Schriften, II 3, 1460‑1462; Fuld, Walter Benjamin. Eine Biographie, 235.

[29] Hiller, "Philosophie des Ziels", 33

[30] ebd.

[31] ebd., 45

[32] vgl. Foucault, "Die politische Funktion des Intellektuellen"; Deleuze/Foucault, "Die Intellektuellen und die Macht"

[33] Benjamin, "Der Autor als Produzent", 692f.

[34] ebd., 700f.

[35] ebd., 701

[36] Benjamin, "Zum gegenwärtigen gesellschaftlichen Standort des französischen Schriftstellers", 226

[37] vgl. hierzu etwa Bourdieus Begriff des Medienintellektuellen sowie meine Ausführungen in Raunig, Wien Feber Null, 63-77

[38] Deleuze/Parnet, Dialoge, 52

[39] Deleuze, Unterhandlungen, 252