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09 2003

Die Universal Embassy: ein welt-offener Ort

Tristan Wibault

Übersetzt von Stefan Nowotny

Es gibt nur eine Tugend: die Ohnmacht.
Robert Desnos

Ein mikropolitisches Habitat

Im Jänner 2001 haben Illegale - Sans-Papiers, die um ihre Regularisierung[1] kämpften - das verlassene Gebäude der somalischen Botschaft in Brüssel besetzt, um ihrem dringenden Bedürfnis nach Unterkunft zu entsprechen.

Dieser aufgrund des Bürgerkriegs in Somalia verwaiste Ort, Eigentum eines verschwundenen Staates, sollte schnell zur Universellen Botschaft[2] werden. Universell, weil sich die hier versammelten Individuen der Diskriminierung bewusst sind, die durch die Bindung an eine Nationalität produziert wird. Das Gebäude wird seither ausschließlich von Sans-Papiers bewohnt. Die Universal Embassy zielt auf Unterstützung ab, und mithin auf Autonomie. Sie hilft ihren BewohnerInnen bei ihren verschiedenen administrativen Gängen und Wegen juristischer oder sozialer Art. Sie ist ein offener Ort, an dem Personen, die an ihrem Aufenthaltsort illegal sind und keine Unterstützung vonseiten der Behörden ihrer Herkunftsländer zu erwarten haben, sich überschneidende Informationen austauschen, anderen Gemeinschaften begegnen, Maßnahmen des Kampfes treffen. Sie ist zur Botschaft jener geworden, die keine Botschaft mehr haben.

Die Universal Embassy bildet in Brüssel einen einzigartigen Ort, an dem Sans-Papiers ihre Erfahrung miteinander teilen, sich gegenseitig unterstützen und eine öffentliche Stimme entwickeln können, an dem alle Arten von Begegnung möglich sind, an dem verschiedene Gemeinschaften sich vermischen, an dem ein soziales Leben zur Erscheinung kommt und das Vielfache sich ausdrücken kann. Heute leben ungefähr dreißig BewohnerInnen in der Universal Embassy: Männer, Frauen und Kinder algerischer, marokkanischer, ruandischer, ecuadorianischer, albanischer, iranischer, ukrainischer Herkunft.

Das Handeln in der Universal Embassy bildet sich in der Artikulation zwischen dem Elend der Klandestinität und einer politischen Fiktion aus. Was darin entstehen kann, ist eine neue Sprache. Die Sprache eines Volks im Kommen.

Die Funktion der Aufnahme und Betreuung ist fundamental. Sie ermöglicht es, die Entwicklung der Situation der MigrantInnen zu erfassen: die Prozesse, die in die Klandestinität führen, die Hindernisse, die der Regularisierung entgegenstehen. Hierin liegt das Zentrum des Handelns. Von hier aus baut sich, gemeinsam mit den BewohnerInnen, eine Expertise des Überlebens, eine juristische und politische Expertise, eine alltägliche Sensibilität auf. Die Gesamtheit der Aktivitäten zielt darauf ab, die Sans-Papiers im Kampf um die Anerkennung ihrer Rechte zu rüsten, ihnen das Vertrauen in ihre Mittel wiederzugeben. Ein Jenseits des Überlebens kristallisiert sich langsam heraus – an einem Ort, der mehr ist als eine Notunterkunft. Die BewohnerInnen sind das politische Subjekt, sie organisieren ihr Leben.

Die Sozialarbeit zieht sich auf ein individuelles Verhältnis zurück, von UnterstützerIn zu Unterstütztem/r. Dieses Verhältnis ist hoffnungslos unfähig, den Opfern der Klandestinität zu helfen, die per definitionem ohne Rechtssicherheit sind. Das Maß an Humanität der Politiken, die den Illegalen entgegengebracht werden, ist variabel. Einerseits haben sie Zugang zu bestimmten Rechten und zu bestimmten Einrichtungen: etwa medizinische Behandlung zu erhalten, ihre Kinder in die Schule einzuschreiben, oder auch Rechte, prekäre Tätigkeiten auszuüben. Aber im Übrigen können sie einer Razzia in der U-Bahn zum Opfer fallen und in ein centre fermé[3] gebracht werden. Der/die Sans-Papiers führt seinen/ihren Kampf letztlich in diesem verengten juristischen Raum. Die Willkür und der Mangel an einer Gesamtvision tragen immer zur Isolierung von MigrantInnen bei, zur Entwicklung von Gerüchten, zur Reproduktion von Akten der Unterwerfung unter zukunftslose Prozeduren. Die politische Dimension verschwindet. Am Ende bleibt fast nur noch, den Minimalstatus eines menschlichen Wesens einzufordern …

Es genügt nicht, die politische Dimension lauthals hinauszuschreien. Die Sans-Papiers sind keine Körperschaften, die bestimmte Ansprüche geltend machen könnten. Und doch wird die Mobilisierungsarbeit allzu oft in solchen Begriffen gedacht. Die Klandestinität löst jedes Lebensprojekt auf. Es ist einfach, den Sans-Papiers einen Korporatismus des Überlebens vorzuwerfen. Es ist Zeit, über den eindimensionalen Charakter des Kampfes hinauszugehen.

 

Verengter Alltag

Die Universal Embassy ist ein Stern.

Die Klandestinität ist eine absurde Reise, die am Ende des Identitätsverlusts steht. Ein Bewohner aus Somalia, jenem verschwundenen Land, irrt mit einer Zorro-Maske in der Stadt herum. Im centre fermé hätte er unzusammenhängende Reden geführt … Eine migrantische Großmutter läutet, in der Überzeugung, dass ihre Tochter dort wohnt, an der Tür des benachbarten Gebäudes: der Botschaft von Saudi-Arabien. Sieben Jahre lang verbringt sie auf einer Reise, auf der die Realität sich auflöst … Sie ist 77 Jahre alt. Die Klandestinität wird zu einem Schwebezustand, einem Zustand der Suspension in einer Parallelwelt, einem Verdunsten der eigenen Substanz.

Die Universal Embassy ist ein Konzentrat der Schwäche. Wenn sich hier jemand vorstellt, um Unterkunft zu finden, dann deshalb, weil die Prekarität seiner/ihrer Situation unerträglich geworden ist.

Die Furcht ist der Schatten des/der Klandestinen. Furcht vor allem und jedem: den Bus zu nehmen, zu arbeiten, sich zu bewegen. Man muss Acht geben, sich nicht auffällig benehmen, sich nicht in den Einkaufszentren herumtreiben. Wenn man nichts zu kaufen hat, hat man sich dort nicht herumzutreiben … Jede Handlung birgt ihr eigenes Maß an Risiko.

Es ist das Justizsystem, das eine/n zusammenhält. Die Hoffnung ist winzig, und jede/r richtet sich im Warten ein. Immer und immer warten, alles konzentriert sich auf dieses Warten. Sich im Ausschöpfen des Verfahrens zu erschöpfen, monate-, jahrelang. Man ermutigt sich, indem man sich sagt, dass das immer noch besser ist, als die sichere Abschiebung zu riskieren. Obszöner Irrgarten.

20, 30 Jahre alt sein, ohne Zukunft, ohne möglichen Lebensentwurf. Die klandestine Migration verlängert die bittere Erfahrung einer verlorenen Jugend. Um einer bleiernen Gesellschaft oder der Arbeitslosigkeit zu entfliehen, wird die Migration in sich selbst zum Lebensprojekt, zur Hoffnung auf eine Möglichkeit. Dieser Traum zieht sich auf sich selbst zurück. Das Projekt entwirklicht sich. Es gibt kein Begehren mehr, das artikuliert werden könnte. Der hypothetische Tag der Regularisierung entleert sich seines Sinnes, er kann nicht besetzt werden. Dass es keine Lösung gibt, das ist die Konstante.

Selbstverlust ist hier am Werk. Ein getriebenes, ausgebeutetes Tier werden, ein/e Kriminelle/r und ein Opfer. Nicht mehr lesen, nicht mehr schreiben, drei Euro in der Stunde verdienen, als Frau noch weniger.

Die Universal Embassy zu gründen und aufzubauen heißt, eine konkrete Hoffnung wiederzufinden. Das ist die Artikulation, um die es hier geht: dieser verengten Realität etwas entgegenzusetzen und sich jenseits der Nationen und ihrer trostlosen Territorien zu bewegen; Vertrauen in die eigenen Mittel fassen zu können, zu begehren, sich zu entwerfen.

Die Universal Embassy ist eine Ermöglichung. Zunächst ging es um eine Unterkunft, die renoviert werden musste: von oben bis unten putzen, für Wasser und Strom sorgen, eine Küche einrichten, die Sanitäranlagen reparieren, das Dach wieder instandsetzen etc.

Dennoch kann dieser - in jeder Hinsicht offene und allen möglichen Einflüssen ausgesetzte - Ort nur ein Ort der Krise sein. Der Wohnraum allein ist nicht lebensfähig, wenn nicht die Gesamtheit der Probleme seiner BewohnerInnen durchmessen wird. Ohne irgendeine Autorität zu haben, ohne irgendetwas delegieren zu können. Jede Schwierigkeit erfordert es, Gestaltungen zu finden, um sie zu überwinden. Sehr oft außerhalb der Medizin, außerhalb des Rechts, durch die Verwirklichung des Lebensortes. Langsam zeichnet sich ein heterogenes Mosaik von Involvierten ab, das sich auf Respekt und den Austausch von Wissen gründet. Zur gleichen Zeit, wie der Lebensort sich anreichert, durchbricht er jene soziale Isolierung, die durch die Repression so wirkungsvoll organisiert wird. Er autonomisiert sich.

Es ist möglich, gemeinsam "Ailleurs" ("Anderswo") von Henri Michaux zu lesen, die Geschichte von den Arpedren: "Die Arpedren sind die unnachgiebigsten Menschen, die es gibt, besessen von Rechtschaffenheit, von Rechten und noch mehr von Pflichten. Respektable Traditionen, gewiss. Das Ganze ohne Horizont." – Der Ausdruck befreit sich, tritt aus dem Stigma heraus, man kann sich austoben, Feste feiern, und Feste feiern heißt auch essen. Es ist möglich, die Politik zu besetzen und daraus eine Kraft des Begehrens zu entwickeln, wieder einen Platz in der Welt zu finden, wo die Meinungen bedeutungsvoll und die Handlungen wirkungsvoll sind.

 

Autonome MigrantInnen

Als MigrantInnen ohne Protokoll sind Sans-Papiers von der Evidenz des Rechts dazu getrieben, Rechte zu haben. Sie sind weder Opfer noch Kriminelle. Die Autonomie ihrer Bewegungen lässt den Ruf nach einem neuen Verhältnis des Rechtssubjekts zum produktiven Subjekt erklingen. Was kann das historische Band zwischen dem Staatsbürger und dem Arbeiter noch bedeuten, wenn doch Fremde hier in Sklaverei sind? Überzählige der Biomacht, erfindet ihre Existenz in der transnationalen Welt heute neue Diasporas ohne ursprünglichen Bruch und konstituiert vielfältige Netzwerke der Solidarität und der Ausbeutung, in denen sich, über mehrere Generationen, Herkunft, Niederlassung und Transit berühren. Das Territorium wird zum Lokalen, das mit der Reise verknüpft ist.

Wir haben hier die Unmittelbarkeit eines Rechtssubjekts, das transnational ist, weil es die kleinen Vereinbarungen zwischen Nationen transzendiert; ein anderes Interesse als den Wechsel der Staatsbürgerschaft oder die (zwangsläufig immer verdächtige) doppelte Staatsbürgerschaft, das Begehren nach etwas anderem: einer Autonomie persönlicher und kollektiver Konstitutionsgeschehen und den Wegen neuer Solidaritäten, die von Territorien und der Grenze entbunden sind.

Europa bleibt blind gegenüber dieser wesentlichen Grundlage der Welt, die im Kommen ist. Indem sich die verschiedenen europäischen Länder auf eine zu Ende gehende Konzeption von Nationalität versteifen, geben sie sich der Illusion hin, die Migrationen, deren Motivationen allein in der Initiative der MigrantInnen ruhen, kontrollieren und ihnen Einhalt gebieten zu können. Was hier ins Werk gesetzt wird, ist eine neue Landschaft des Krieges. Und man dachte doch eigentlich, sich der Negativität der Mauer entledigt zu haben.

Indem die Staaten es hinnehmen, dass Menschen existenzielle Krisen durchleben, weil sie keine Papiere haben, rufen sie uns in Erinnerung, was unter Identität zu verstehen ist. Die Existenz einer Identität zwischen den Staaten ist ein Identitätsverlust, der bis zum Verlust des Namens geht, aber sie kann auch ein Ort des Universellen werden, das sich an der Kreuzung der Wege neu zusammensetzt. Die Universal Embassy versucht, in diesem Übergang voranzuschreiten: von der ausgelöschten Identität hin zum Universellen, das es zu konstituieren gilt; die Affirmation kraft der Negation einer Existenz ohne Papiere zu überschreiten und das konstituierende Begehren zu säen; die obligatorische Vermittlung des Staates hinter sich zu lassen, um ein direktes Hinwirken auf ein transnationales Recht hervorzurufen. Wie jede Botschaft ist die Universal Embassy ein Ort der Repräsentation, aber ohne figurierten Staat. Was repräsentiert wird, ist im Kommen. Ihre BewohnerInnen, die Sans-Papiers, neue Parias der freien Welt, setzen die Bestreitung einer Staatsbürgerschaft, die mit der Nation blutsverwandt ist, in die Tat um. Indem die Botschaft in die Konturen staatlicher Repräsentationen interveniert, hebt sie die Limitation der Grenze lokal auf. Ihre BewohnerInnen sind die bereits Angekommenen eines in der Welt gegenwärtigen Lokalen.


[1] Das Kabinett Verhofstadt I, die so genannte "Regenbogenkoalition" aus liberalen, sozialistischen und grünen Parteien, hatte 1999 eine zeitlich begrenzte und mittlerweile abgeschlossene Regularisierungskampagne ins Leben gerufen, in deren Verlauf etwa 30.000 Sans-Papiers legalisiert wurden. Viele Anträge blieben jedoch über das Ende der Kampagne hinaus unerledigt, und viele Sans-Papiers wagten es erst gar nicht (aus Angst, die Kriterien nicht zu erfüllen), Anträge zu stellen (Anm. d. Übers.).

[2] Siehe auch die Website der Universal Embassy, auf der neben weiterem Informations- und Dokumentationsmaterial auch die "Deklaration der Universal Embassy" zu finden ist: http://www.universal-embassy.be/. Die deutsche Übersetzung der Deklaration sowie ein Text Stefan Nowotnys zum Entstehungskontext der Universal Embassy sind abgedruckt in: Ljubomir Bratic (Hg.), Landschaften der Tat. Vermessung, Transformationen und Ambivalenzen des Antirassismus in Europa, Wien 2002, 259-265.

[3] In Belgien gibt es, wie in einer Reihe anderer EU-Staaten auch, so genannte "geschlossene Zentren" (centres fermés), d. h. eigene Lager, in denen Sans-Papiers monatelang festgehalten werden können, um schließlich teils abgeschoben zu werden, teils – im Fall von Personen beispielsweise, die aus rechtlichen oder administrativen Gründen nicht abgeschoben werden können – wieder in die Klandestinität entlassen zu werden (Anm. d. Übers.).