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05 2003

Filmische Gegeninformation. Einige Schlaglichter aus der Filmgeschichte

Thomas Tode

Ich sehe meine Rolle als Filmhistoriker in Rahmen dieser Veröffentlichung vor allem darin, einige Materia­lien vorzulegen: instruktive Beispiele filmischer Gegeninformation von den 20er bis in die 90er Jahre. In der Kürze der Zeit kann das nur in Schlaglichtern geschehen und ich beschränke mich auf das Thema "Darstellung von Macht". Wir werden sehen, dass viele der Fragen von heute sich genau so bereits früher einmal gestellt haben, und wir werden einige Lösungen der Filmautoren kennen lernen.

Der "politische Film" wurde im Russland der Revolution zwischen 1919 und 1925 geboren, man denke an die Filme von Eisenstein, Pudowkin usw. Aber auch in der Revolutionierung des Non-fiction-Films kam der entscheidende Anschub aus Russland. Im Zuge der zwanziger Jahren zeigt sich die Linke zunehmend fasziniert von der Vorstellung, dass technische Medien die Realität "dokumentarisch" einzufangen vermö­gen, d.h. Filme und Fotos den Charakter von Dokumenten annehmen und daher im politischen Kampf als Argumente dienen können. Bei der Genese dieser Vorstellungen spielt das Vorbild des sogenannten "Rus­senfilms" eine nicht unwesentliche Rolle. Die Betonung von sozialer Verantwortung und künstlerischem Experiment im russischen Dokumentarfilm setzte neue Maßstäbe, die auch eine neue Begrifflichkeit rechtfertigten. Aus den Äußerungen in der deutschen Presse lässt sich entnehmen, dass der Begriff "do­kumentarischer Film" Ende der 20er Jahre Eingang in das Fachvokabular findet, inspiriert von den neuar­tigen sowjetischen Beispielen.[1] Die Sowjetkinematographie hatte mit den alten Formen – z.B. dem Kultur­film – gebrochen, um die neuen sozialen Funktionen des Films durchzuführen. Theoretiker wie Sergei Tretjakow sprachen von einer "operativen" Kunst, die der gesellschaftlichen Bewegung nützlich ist.

Als abendfüllende Autorenfilme kamen solche Dokumentarfilme erst Ende der 20er Jahre in die kapitalis­tischen Länder, wo sie als "Gegeninformation" dienten. Der erste bedeutende Dokumentarfilm, der nach Deutschland kam, war Jakow Bliochs Schanchaiski dokument (Das Dokument von Shanghai, SU 1928). Er kann als Prototyp des operativen Filmes, eines Filmes der Gegeninformation gelten. Er zeigt zunächst den Hafen Shanghais und das Leben in den chinesischen und in den europäischen Vierteln. Die harte Arbeit der lastenschleppenden Kulis wird gegen das Nichtstun der besitzenden Europäer und chinesischer Eliten gesetzt: Ein erschöpfter Kuli späht durch einen Zaun und erblickt die europäische Bourgeoisie bei Bade­freuden und Cocktails, die Räder seines Karrens gehen über in die sich drehenden Schallplatten der tan­zenden Müßiggänger, eine riesige, mit Kulis betriebene Tretmühle verwandelt sich in ein Karussell mit lachenden europäischen Kindern, gefolgt von harter Arbeit chinesischer Kinder in Seidenspinnereien und phosphorvergifteten Streichholzfabriken. Es gärt in der Stadt, doch die europäische Militärmaschinerie schlägt die Unruhen nieder. Die Straßen füllen sich nun mit Revolutionären und die Europäer verschanzen sich in ihren Enklaven hinter Sandsäcken, lassen Schlachtschiffe auffahren, landen reguläre Truppen und Tanks an. Im März 1927 übernimmt die Süd-Armee der Kuomintang unter Tschiang Kai-schek die Stadt, bricht aber gleich danach blutig mit den bislang verbündeten chinesischen Kommunisten, lässt gefesselte Gefangene exekutieren. So wird Tschiang Kai-schek am Ende des Films als Verräter der chinesischen Revolution gebrandmarkt.

Das Epochale dieses Films liegt in der "Entdeckung" der politisch gefassten Parallelmontage, dem analyti­schen Kamerablick und der politisch-publizistisch eindeutigen Haltung. Der Autor besteht darauf – nicht zuletzt mit Hinweis des Titels –, dass es sich um "Dokumente" von Unterdrückungs- und Ausbeutungs­praktiken handelt. Der Bruch mit dem im Reisefilm bis dato üblichen Postkartenidyll ist scharf und end­gültig, wie auch die Zeitgenossen in ihren Rezensionen anerkannten: "Der Kulturfilm muss dokumentari­schen Wert bekommen. Dieser dokumentarische Wert wird freilich nie ohne politischen Beigeschmack sein können." (Film und Volk, Nr. 1, November 1928, S. 4.) Bliochs Parallelmontage fügt Bilder zusam­men, die genaugenommen keine räumlichen oder zeitlichen Beziehungen zueinander unterhalten, son­dern diese erst in der Montage herstellen. Gerade dadurch, dass dies für den Zuschauer durchschaubar ist, wird letztlich thematisiert, dass es sich um eine "Interpretation" der vorgefundenen Welt handelt, und zwar aus sozialistischer Sicht: eine "kommunistische Dechiffrierung des Sichtbaren"[2]. Der feine Unter­schied zwischen (berechtigter) Parteilichkeit und Propaganda entsteht dort, wo ein urteilender Mensch hinter der Schilderung zu spüren ist. Durch das Offenlegen der eigenen Darstellungsstrategie verliert der Gegenstand und gewinnt aber die Darstellung an Authentizität. Authentizität ist also keine intentionslose Eigenschaft der Bilder, kein von vorneherein gegebenes Naturereignis, sondern muss als Form und Re­sultat medialer Darstellung verstanden werden.

Für die Darstellung von Macht ist interessant, dass der Autor die delikate Rolle der Sowjetunion mit ihrer finanziellen und militärischen Unterstützung Tschiang-Kai-Tscheks vergessen machte und durch Be­schwörung dessen "Verrats" aus der faktischen Niederlage einen moralischen Sieg der kommunistischen Arbeiterschaft werden ließ. Der Kern der Gegeninformationen, nämlich die Ausbeutungspraktiken und die rücksichtslose Gewaltanwendung, blieben davon sowieso unangetastet und konnten mit größter Anschau­lichkeit verbreitet werden. Die unerhörte Resonanz des Films vor allem in Deutschland, England und Amerika zeigte dies.

Dies zeigt auch ein wichtiger operativer Film der deutschen Arbeiterbewegung, Phil Jutzis 1. Mai – Welt­feiertag der Arbeiterklasse (D 1929), der auch unter dem Titel Blutmai 1929 bekannt geworden ist. Das Zentrum des Films besteht aus einem brutalen Polizeieinsatz in Berlin, der das dort erlassene Demons­trationsverbot für den 1. Mai durchsetzt. Motorisierte Einsatzkommandos und berittene Polizei treiben die Demonstranten vor der KPD-Zentrale am Bülow- (heute: Rosa-Luxemburg-) Platz auseinander. Nahauf­nahmen zeigen den Einsatz von Gummiknüppeln und die Jagd auf einzelne Demonstranten. In tumultar­tigen Szenen sehen wir immer wieder flüchtende Demonstranten, dann Verhaftungen und von Arbeitern errichtete Barrikaden. Der nächste Teil zeigt die Lage am 2. Mai: Auch die bürgerliche Presse empört sich über die 19 toten Demonstranten, doch die Zahl wird sich noch um ein weiteres Drittel erhöhen. Einge­schnittene Pressefotografien zeigen Schützenpanzer und Schupos mit Gewehren, die Filmkamera schwenkt an Häuserfassaden mit Einschüssen entlang. Im Barrikadenviertel patroulliert nun überall Poli­zei und nimmt Ausweiskontrollen vor. Die Reportage schließt mit dem feierlichen Begräbnis der Toten, und einer flammenden Rede von Thälmann. Mit der großangelegten Trauerkundgebung wird ein – für das Medium Film geeignetes – dramaturgisches Modell vorgestellt, die faktische Niederlage in einen politi­schen Sieg umzumünzen.

Bemerkenswert ist , dass eine ganze Schar kommunistischer Kameramänner auf die Tumulte vorbereitet war und die Ereignisse aus zahlreichen Blickwinkeln, vor allem von den Dächern aus, gefilmt hat. Der Film über den brutalen Einsatz der von dem Sozialdemokraten Zörgiebel geleiteten Polizei veranschau­lichte für viele die Bereitschaft der SPD zu Bündnissen gegen die Arbeiterschaft und vertiefte die Spaltung der Arbeiterparteien. Die Artikel der Printmedien und die Anschaulichkeit des Films führten zur Gründung eines überparteilichen Untersuchungsausschusses. Blutmai 1929 muss daher als eines der gelungensten Beispiele für operativen Medieneinsatz gelten. Der Film wird interessanterweise auch im Zuge einer spä­teren Gerichtsverhandlung vorgeführt, offenbar als etwas, das den Charakter eines Dokuments besitzt: "Jedes Bild ist eine erschütternde Anklage", schrieb die Rote Fahne (25.11.1931).

Die spektakulären Aufnahmen werden in der Folgezeit immer wieder zitiert, u.a. in einer Sonderausgabe der sowjetischen Wochenschau Sojuskinojournal Nr. 33 mit dem Titel Perwoje maja w Berline (SU 1929), in Wladimir Jerofejews kritischem Deutschlandportät K stschastliwoi gawani (Zum glücklichen Hafen, SU 1930) und in Ivor Montagu’s Free Thaelmann (GB 1935). Aber auch in nationalsozialistischen Filmen er­scheinen sie als Zeichen für die Instabilität der Weimarer Republik, so in Johannes Häußlers Blutendes Deutschland (D 1933) und Hans Weidemanns Jahre der Entscheidung (D 1937-39).

Für die Geschichte der filmischen Gegeninformation treten hier drei Momente klar hervor: Erstens das präzise Vorbereitet-Sein auf die (voraussehbaren) Aktionen der Polizeimacht und das Prinzip der Kollekti­vität (also der Vervielfachung der Standpunkte) beim Drehen ermöglichen die Subversion der bestehen­den Machtverhältnisse. Zweitens zeigt sich das Problem, dass die meisten Bilder auch vom politischen Gegner jederzeit umgemünzt werden können. Wie kann man also so filmen, dass das Bild nicht vom Gegner umgedreht werden kann, so wie man Agenten umdreht? Drittens vermittelt der Film in seiner ganzen Anlage, dass sich der Regisseur und seine Kameramänner in eins mit der kommunistischen Be­wegung und der Partei befinden, sie nicht von außen darstellen, sondern direkt vertreten.

Das dritte Beispiel aus der Weimarer Republik ist Werner Hochbaums Film Zwei Welten (D 1930), der anlässlich der Reichtagswahlen vom 14.9.1930 entsteht. Es ist zweifellos einer der interessantesten Wahlfilme der SPD, der – in der Tradition des Dokuments von Shanghai – ganz auf einer scharfen Kon­trastmontage zwischen reichen Müßiggängern und verarmten Proletariern beruht. Mondäne Tennisspiele­rinnen der besseren Gesellschaft üben sich in Small Talk, während in den Straßen ein Heer von Arbeitslo­sen vorbeistampft. Ein monokeltragender Golfspieler prostet den Sportskameraden zu, während am öf­fentlichen Arbeitsnachweis die Arbeitssuchenden Schlange stehen. Der wohlhabende, golfspielende In­dustrielle lässt sich vom Chauffeur nach Hause kutschieren, während einer der Arbeitslosen zu Fuß in seine triste Hinterhofwohnung zurückkehrt. Weitere Mietskasernen, Hinterhofschächte, enge Gassen, Verschläge und heruntergekommene Fachwerkhäuser defilieren vorbei: die Wohnstätten des Proletariats. Der Industrielle wechselt indes seine Kleidung mit einer Nazi-Uniform und besucht im Salon seine ge­langweilte Gespielin. Wie so häufig bei Hochbaum enthalten Detailaufnahmen wie das Überstreifen der Hackenkreuz-Armbinde die wesentliche Charakterisierung. So knapp und scharf hatte selten ein Film die enge Verbindung von Industriellen und Faschisten beschrieben.

Für das Prinzip der Gegeninformation ist hier die hybride Filmform interessant, also die Tatsache, dass dokumentarische Beobachtungen mit inszenierten Spielszenen durchsetzt werden. Bei der Darstellung von Personen der Macht sind viele Situationen nicht ohne weiteres dokumentarisch zu filmen, da der Zu­gang zum Drehen verwehrt wird. Darüber hinaus wird hier die Macht mit Ironie dargestellt, mit feinem verdecktem Spott, der unter dem augenfälligen Schein der eigenen Billigung den politischen Gegner lä­cherlich macht. Der beiläufige Wechsel der Kleidung geht noch darüber hinaus und avanciert zu einem politisch zugespitzten Denkbild. Mit dem Einsatz von Ironie und Denkbild tritt eine Metaebene hinzu: die Bilder werden nicht mehr nur auf der ersten Ebene der Bedeutung gelesen.

Chris Markers und François Reichenbachs La sixième face du Pentagone (Die sechste Seite des Pentagon, F 1968) dokumentierte den Marsch auf das Pentagon vom 21. Oktober 1967 im Zuge einer Demonstra­tion gegen den Vietnam-Krieg. In der entscheidenden Phase der Demonstration gibt die Postenkette nach, und ein Teil der Menge bricht durch und läuft auf den Eingang des Kriegsministeriums zu. Nun zeigt die Polizeimacht ihre ganz Härte: Mit Schlagstöcken werden die Studenten auf den Treppen des Gebäu­des empfangen und zurückgetrieben. Das Bild der knüppelnden Polizeibeamten zwischen den Säulen des Pentagoneingangs ist genau das Bild, das die Demonstranten ersehnten – wie damals Hilmar Hoffmann analysierte: "[Es geht] nicht darum, das Pentagon zu stürmen, sondern das Symbol, für das es steht. Durch das Prinzip der Gewaltlosigkeit, mit der die Hunderttausend die Aufmerksamkeit auf ihre vom élan révolutionnaire inspirierte Bewegung lenkten, wollten sie die legale Macht vor aller Welt diskreditieren, deren Repräsentanten vor der Macht der Ohnmächtigen schließlich ihre eigene Ohnmacht gegenüber dem hoch friedlichen Plebiszit bekennen mussten."[3]

Das interessante an dieser Sequenz ist, dass Marker sie einige Jahre später in seinem Film Le fond de l’air est rouge (1977) wieder aufnimmt und auf ihre politische Funktion hin untersucht: "Nur einige we­nige Polizisten sind zu sehen, und die werden von der Masse überrannt. Die tobt vor Freude darüber, dass sie eine Grenze überschritten hat, die ihr überhaupt niemand streitig machen wollte. Und dort auf der Treppe stellte sich dann die Ordnung wieder her, nach einem symbolisch zu nennenden Versuch, ins Innere einzudringen. Die Polizisten hatten wirklich Angst, man hätte sie nicht alarmieren sollen. Ich filmte damals diese Szenen, und um Bluff mit Bluff zu begegnen, präsentierte ich sie dann als Sieg der Bewe­gung. Aber wenn ich mir diese Bilder heute ansehe, und sie mit den Berichten der Polizisten vergleiche, die erzählten, dass sie im Mai 1968 selber Kommissariate angesteckt hätten, so frage ich mich, ob nicht so mancher unser Siege der 60er Jahre auf genau dieser selben Ebene lag."

Diese ehrliche und selbstkritische Analyse ist wohl erst mit dem Abstand einiger Jahre möglich gewesen. Der Filmautor hinterfragt Bilder. Das Bild ist nicht mehr selbstverständlich Dokument einer Situation. Es gibt Kontexte und Wahrheiten, die – je nach geschichtlichem Zeitpunkt – ein- oder ausgeblendet werden. Der Autor ist ein Einzelkämpfer geworden. Er muss keine Rücksicht mehr auf die Parteiraison oder die Ziele der Bewegung nehmen. Er kann sie sogar kritisieren, wenn er die viel propagierten "Siege der 60er Jahre" mit den Fabeleien pseudoradikaler Polizisten vergleicht. Es scheint sich um politische Gegeninfor­mation zu handeln, doch in Wirklichkeit geht es um Bluff und Täuschung, um Finten, Scheinangriffe und Trug. Alles ist ein wenig doppelbödig geworden, auch die scheinbar so eindeutigen Bilder – oder sollte ich sagen gerade die scheinbar so eindeutigen Bilder? Markers Lehre lautet: Nichts ist eindeutig. Nichts ist einfach.

Im Gegensatz zum Film von 1967/68 ist Le fond de l’air est rouge ein Essayfilm, wie er vor allem in poli­tischen Krisenzeiten entsteht, in denen die Menschen aus ihren alten Bindungen freigesetzt werden. "Vielleicht sollte man sagen: ›Zwischenzeit‹, weil der Optimismus so dumm macht und der Pessimismus so unbeweglich."[4] Die Trennung zwischen dem Politischen und dem Privaten, wie sie die operativen Filme der KPD der 20er Jahre noch beständig aufrecht erhalten haben, wird im Essayfilm untergraben.

1977 greift Marker u.a. eigene früher gedrehte Bilder auf, kommentiert sie mit dem zeitlichen Abstand neu, schafft noch mit schlichten, künstlichen Einfärbungen Distanz. 1982 in Sans Soleil wird die seit dem Drehen vergangene Zeit noch radikaler am Körper der Bilder selbst sichtbar gemacht: Die Demonstrati­onsbilder der 60er Jahre vom Flughafenprojekt Narita werden durch einen Bildsynthesizer verfremdet, mit wechselnden Farbwerten geflutet, so dass die Umrisse des Dargestellten sich auflösen, ausfransen, verformen und das Bild in einer ständigen, leichten Bewegung halten. Bilder von Demonstranten, die immer wieder die Fäuste recken, sind durch den inflationären Gebrauch im Zuge der Gegenöffentlichkeit der 70er Jahre zur Konvention geronnen, haben sich festgefressen. Ähnliches gilt für die vielgezeigten Bilder der Kamikaze-Flieger. Gerade an diesen traumatischen Bildmotiven funktioniert Markers Verfahren besonders gut. Im Kommentar nennt er diese Bilder "weniger verlogen", da sie nichts als "Bilder" sein wollen und nicht die schon längst unerreichbare, vergangene Form einer Wirklichkeit.

Wahrhaftig ist für Marker nur der Blickwinkel des Augenblicks, der als solcher ausgewiesen wird. Das Bildreservoir aber, das auf Foto und Film gespeichert ist, hält nicht Schritt mit dieser Umschrift der Ver­gangenheit, da es durch die Abbildgenauigkeit an die Erscheinung des Augenblicks gebunden bleibt. In den verfremdeten Bildern zeigt Marker den unumgänglichen Abstand zu dem unmittelbaren Ereignis, den unser Gedächtnis inzwischen längst, als unbewusste Not-Operation, eingenommen hat: die Abdrift der Bilder. Auch Markers Darstellung von Macht bzw. Ohnmacht der aktuellen Demonstranten angesichts des inzwischen gebauten Flughafens ist von der Souveränität eines unabhängigen Geistes gekennzeichnet, für den das Ergebnis des Konflikts nicht das einzige Kriterium ist: "Der Kampf war am Konkreten ge­scheitert. Gleichzeitig hätten sie alles, was sie an Einsicht ins Weltgeschehen und an Selbsterkenntnis gewonnen hatten, durch nichts anderes als den Kampf erwerben können."

In Deutschland erschütterten die Ereignisse vom Herbst 1977 das optimistische Szenario der "Gegenöf­fentlichkeit", wie es in der 68er-Bewegung vertreten wurde und der zufolge ein Filmemacher für ein kon­kretes Publikum arbeitet, als Medium im Dienst einer Sache. Nicht zufällig markiert der essayistische Kollektivfilm Deutschland im Herbst (D 1978) die gewachsene Empfindlichkeit für die Inszenierung der Realität, zwischen Schleyer-Beerdigung und dem Terroristen-Begräbnis. Nicht zufällig nimmt das Miss­trauen in das, was die offizielle Sprachregelung als "Realität" bezeichnet, ihren Ausgangspunkt im "deut­schen Herbst". Nicht zufällig vollzieht sich seit dieser Zeit im Film eine zunehmende Aufwertung des Au­tors und der subjektiven Filmform hin zum Essayfilm. Der Rückzug in eine "innere Öffentlichkeit", wie man ihn als Reaktion auf die Todesnachrichten aus Stammheim beschrieben hat, vollzieht sich unter den Bedingungen von Nachrichtensperre und urplötzlichem Informationsfluss. Die verbreitete Hilflosigkeit und Unsicherheit gegenüber den offiziellen und inoffiziellen Darstellungen führt dazu, dass man nur noch bei sich selber Geborgenheit, Gelassenheit und den "Rhythmus selbstbestimmter Wahrheitssuche" findet.

Nur vor diesem Hintergrund ist z.B. Alexander Kluges scharfe Kritik an der Zeichenhaftigkeit von Bildern zu verstehen, wie sie das Fernsehen vermittelt: Paraden, Politiker-Rituale, inszenierte Öffentlichkeit. In dem von Kluge, Böll, Aust und Schlöndorff gedrehten Kollektivfilm Krieg und Frieden (D 1982/83) ent­wickeln sie Gegenstrategien. Indem z.B. solche Ereignisse "vom Rande her" aufgenommen werden. Die zur Konvention geronnene Tagesschauaufnahme eines anreisenden Politikers, der aus dem Flugzeug steigt und über einen Roten Teppich schreitet, wird hier vom Rande des Geschehens, aus der Sicht des Perso­nals, gezeigt: Hubschrauber mit europäischen und amerikanischen Spitzenpolitikern landen in schneller Folge. Indem sich der Film auf die jeweils erneut den Teppich ausrollenden Helfer konzentriert, die – ebenso wie die anwesende Presse – unter den Luftverwirbelungen leiden, wird die Inszenierung des Ritu­als deutlich und zugleich dem Spott preisgegeben.

Ein "von Rand her" arbeitendes Verfahren lässt also die Kamera auf den Nebenschauplatz blicken, dreht sie regelrecht um, um z.B. auf die fotografierende Presse zu schauen. In dem Moment, wo sich die offi­ziellen Kameras des Staatsfernsehens einschalten, schalten diese Kameras der Gegeninformation aus. Das klassische Zentrum, das "Hauptstück", wird nicht gefilmt. Dafür aber davor und danach. Das Auf­bauen, das Abbauen, eben der Rand des Geschehens. Der Kommentar gibt zusätzlich recherchierte In­formationen, etwa dass die Landung der Hubschrauber in der Reihenfolge des Bruttosozialprodukts der Staatoberhäupter erfolgt. Für eine gelungene Gegeninformation sind heute Vorbereitung (z.B. die Akkre­ditierung als Journalist) und Nachbereitung (nachträgliche Recherche von Informationen) unerlässlich geworden. Die Zeiten eines einfachen solidarischen Begleitens der gesellschaftlichen Bewegung sind ein für alle mal vorbei.

Das gleiche Verfahren wenden die Autoren aber übrigens auch auf konventionalisierte Bilder der De­monstrationen an. Die Großdemo der Friedensbewegung mit 300.000 Teilnehmern in Bonn wird aus der Sicht der "Toilettenmänner" geschildert. In einem anliegenden Edelhotel regeln mehrere Hotelangestellte umständlich den Zugang der Demonstranten zu den Toiletten. Die Schlangen vor der Tür sagen ebenso viel über den zahlenmäßigen Erfolg der Demonstration aus wie die konventionellen Platztotalen oder die Verlautbarungen über die Teilnehmerzahlen.

Auch Johan van der Keuken dreht zumindest in einigen Passagen "vom Rande her". In Der flache Dschungel (NL 1978) sehen und hören wir ein Gespräch des hinter der Kamera befindlichen Filmautors mit einem Gewerkschafter, der die gesundheitsbedrohende Expansion der Industrie an der Küste zu rechtfertigen sucht. Für das Prinzip der Gegeninformation fällt zunächst auf, dass van der Keuken den Gewerkschafter nicht einfach reden lässt, sondern mit ihm argumentiert, ihm mit harten Fragen regel­recht zusetzt ("Wo bleibt denn da der Sozialismus, wenn man dem Unternehmer so hinterherläuft?"). Für so ein – mit großer Geistesgegenwart geführtes – Argumentationsgespräch muss allerdings der Filmema­cher gut vorbereitet sein und in der Lage, seinem Gesprächspartner Paroli zu bieten. Marcel Ophüls etwa beherrscht das perfekt; eine gewisse Souveränität, eine schauspielerische und eventuell sogar physische Präsenz gehört allerdings dazu.[5]

In van der Keukens Fall ist allerdings der Gewerkschafter das "kleine Würstchen", der sich merklich unter dem Druck der Fragen windet, zugleich aber als verantwortlicher Gewerkschafter eine Machtfigur ist und eine bedeutende Institution vertritt (an deren Tradition und Verantwortung van der Keuken durch ein Insert und einen Schwenk auf ein Gewerkschaftsplakat "90 Jahre Kampf" hinweist). Nachdem der Ge­werkschafter in einem vielleicht fünf Minuten dauernden Gespräch als Büttel der Unternehmer geoutet wurde, macht van der Keuken etwas Unerwartetes: Er fügt noch eine Minute an, in der man den Gewerk­schafter nicht in seiner beruflichen Funktion erlebt, sondern als Privatier, der während der Autofahrt laut singt, als Sohn, der seine auf dem Land lebenden alten Eltern einmal wöchentlich besucht und mit ihnen Hühner füttert. Auch das gehört zu einem "vom Rande her" arbeitenden Verfahren: Das dargestellte Zentrum – der Beruf und die Funktion und Macht als Gewerkschafter – wird (zumindest für einen Mo­ment) durch die anderen Seiten der Persönlichkeit ergänzt. Van der Keuken schwächt dadurch keinesfalls seine Argumentation, nimmt aber den Menschen in Schutz.

Schauspielerische Präsenz, Witz und Schlagfertigkeit weist auch Michael Moore in Roger and me (1989) auf, man hat ihn gar als "politischen Stand-up-Comedian" bezeichnet. Moore versucht in seinem Film Roger Smith, den damaligen Chef von General Motors, zur Rede zu stellen, der in Moores Heimatstadt Flint 30.000 Arbeitsplätze gestrichen hatte. Natürlich wird Moore in diesem ungleichem Duell zwischen David und Goliath ständig abgewiesen. Doch im Finale kommt es doch zu einer – per Montage herge­stellten – Begegnung des Konzernobersten mit den Opfern seiner Entscheidung: Eine selbstgerechte, salbadernde Weihnachtsrede vor Aktionären wird mit einer gleichzeitigen Zwangsräumung in Flint parallel montiert. Die mehrköpfige Familie konnte Schulden in Höhe von 150 $ nicht mehr zahlen und räumt nun ihre Habseligkeiten Stück um Stück auf einen Wagen. Stammt das Verfahren der politischen Parallel­montage auch aus dem Anfang des Jahrhunderts (etwa im Dokument von Shanghai), so hat es noch lange nicht ausgedient.

Filme der Gegeninformation von heute zeichnen sich durch ein umfangreiches Arsenal an Stilmitteln aus: Selbstkritik, Bluff, Ironie, Witz, der Blick vom Rande auf das Geschehen, die Briefform, dialogische Film­formen.

 

Behandelte Filme:

Schanchaiski dokument (Das Dokument von Shanghai, SU 1928, 60’) – Jakow Blioch

Blutmai (D 1929, 12‘) – Phil Jutzi

Zwei Welten (D 1930, 15’) – Werner Hochbaum

Le fond de l‘air est rouge (Rot ist die blaue Luft, F 1977, 179’) – Chris Marker

Sans Soleil (F 1982, 100’) – Chris Marker

Krieg und Frieden (D 1982/83, 107’) – Kluge, Böll, Aust, Schlöndorf

De platte Jungle (Der flache Dschungel, NL 1978, 90‘) – Johan van der Keuken

Roger and me (USA 1989, 90‘) – Michael Moore

Der Renegat Nr. 2 (D 1995, 97’) – Abbildungszentrum



[1] Vgl. (demnächst): Thomas Tode, »Sowjetische Dokumentarfilme in der Weimarer Republik - oder die Erfindung des modernen Dokumentarfilms im Geiste der Russen«, in: West-östliche Spiegelungen, Neue Folge, Band 2, Lotman Institut der Universität Bochum 2004 (im Druck).

[2] Dziga Vertov, Schriften zum Film, München 1973, S. 112.

[3] Hilmar Hoffmann, »La sixième face du Pentagone«, in: XIV. Westdeutsche Kurzfilmtage 1968, Oberhausen 1969, S. 69 ff. Auch in: Westdeutsche Kurzfilm-Tage Oberhausen (Hg.), Redaktion: Wolfgang Ruf, Möglichkeiten des Dokumentarfilms, Oberhausen 1979, S. 134.

[4] Mathias Greffrath, Montaigne heute. Leben in Zwischenzeiten, Zürich: Diogenes 1998, S. 23.

[5] Das war nebenbei bemerkt vielleicht das größte Problem des Bonengel-Films Beruf Neonazi und des Robby-Müller-Films über Leni Riefenstahl: Beide Filmautoren waren ihren mediengewandten Gegenparts nicht gewachsen.