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Kathrin Busch 08/04
Bilderschrift und kartographischer Eingriff.
Zum Projekt Atlas - spaces in subjunctive im Kunstraum der Universität Lüneburg
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Vom Kunstraum der Universit�t L�neburg im Rahmen von republicart zur Zusammenarbeit eingeladen, unterbreiteten Alice Creischer und Andreas Siekmann den Vorschlag, eine Aktualisierung des 1930 publizierten Atlas Gesellschaft und Wirtschaft von Otto Neurath und Gerd Arntz vorzunehmen.[1] Dieses aus 100 Druckgraphiken und 30 zus�tzlichen Texttafeln bestehende Mappenwerk verfolgt in sozialkritischer Absicht, den Anspruch, vermittels bildlicher Darstellung statistischer Daten gesellschaftliche Zusammenh�nge zu veranschaulichen, um gleicherma�en zur politischen Bildung wie zur Umgestaltung sozialer Missverh�ltnisse beizutragen.[2] Erkl�rtes Ziel ist es, mithilfe verst�ndlicher Repr�sentationen gesellschaftlicher Tatsachen soziale Ver�nderungen zu bewirken. Mit der im Kunstraum begonnenen Aktualisierung des Atlanten wird nicht nur mit Arntz an eine weitestgehend vergessene, linke k�nstlerische Tradition erinnernd angekn�pft, sondern auch das nicht weniger politisch motivierte bildstatistische Programm des gleicherma�en philosophisch, soziologisch wie �konomisch geschulten Neurath auf die Probe seiner Wirksamkeit gestellt. Bei der Wiederaufnahme war zum einen leitend, �sthetisch und konzeptuell an die historische Vorlage anzukn�pfen,[3] ohne jedoch auf signifikante Abweichungen und Umlenkungen zu verzichten, durch die das bildpolitische Programm erst eigentlich erkennbar wird. Zu unterstreichen ist diesbez�glich der in der Wiederaufnahme bewusst zur�ckgewiesene Anspruch einer auf Universalit�t verpflichteten Fortschrittsgeschichte, die noch im Atlas ausgehend von der "Alten Welt" bis in die Gegenwart reichend die Entwicklung von "Produktionsformen, Gesellschaftsordnungen, Kulturstufen, Lebenshaltungen"[4] als Progression erz�hlt. Entscheidend ist des weiteren die Ver�nderung des Kontextes und die Verlagerung der Adressaten: W�hrend Neurath und Arntz sich innerhalb eines Sozialmuseums zwecks Aufkl�rung an Arbeiter und Arbeiterinnen wendeten, versetzen Creischer und Siekmann den Atlas in den Kunstbereich.[5] Daf�r bot sich die Zusammenarbeit mit dem Kunstraum der Universit�t L�neburg besonders an, da hier seit Jahren eine interdisziplin�re, kulturwissenschaftlich ausgerichtete Kooperation von Kunst und Forschung praktiziert wird.

Aktualit�t darf der gemeinsam mit den insgesamt 15 neuen Bl�ttern im Kunstraum[6] zum Abschluss des Projekts ausgestellte Atlas von Neurath und Arntz insofern beanspruchen, als er von der in seiner Relevanz unbestrittenen Einsicht getragen ist, der Zugang zu unserer Wirklichkeit finde sich zunehmend bildhaft vermittelt. Aus der Tatsache, der "moderne Mensch" sei "durch Kino und Illustrationen sehr verw�hnt" [7] folgert Neurath schon 1925, dieser Bildersegen m�sse nicht allein der Ablenkung und Unterhaltung, sondern k�nne "in angenehmster Weise"[8] der Aneignung n�tzlichen Wissens dienen. Neurath zieht den bildp�dagogischen Schluss, man habe zur Vermittlung gesellschaftskundlicher Bildung ebenfalls die Vorz�ge "optische[r] Eindr�cke"[9] zu nutzen. Wenn er proklamiert: "Das moderne Reklameplakat zeigt uns den Weg!"[10], dann schreckt er nicht davor zur�ck, eine � wie mit Benjamin zu formulieren w�re � "Rezeption in der Zerstreuung"[11], zur Aufnahme politisch relevanter Kenntnisse vorzuschlagen. Die Verbesserung der Lebensverh�ltnisse durch Verbreitung von Wissen soll vermittels der sogenannten Wiener Methode der Bildstatistik gew�hrt werden, die Neurath seit seiner Gr�ndung des Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseums (1925) vorangetrieben und zu dessen Realisierung er 1929 Arntz zum k�nstlerischen Leiter der graphischen Abteilung bestellt hat. Die Visualisierung sozial�konomischer Daten dient daher nicht allein dem angenehm leichten, fast beil�ufigen Erfassen von Kenntnissen, sondern dem Zweck des politischen Eingriffs.[12]

Dieser agitatorischen Ausrichtung hat Neurath seine Untersuchungen zur richtigen Anwendung von Bildern unterstellt: Sie betreffen zum einen die f�r die Wiener Bildstatistik grundlegende Einf�hrung der mengenlogischen Darstellung, dergem�� eine gr��ere Menge nicht durch ein gr��eres Symbol, sondern durch eine h�here Anzahl von Figuren visualisiert wird, zum anderen ist entscheidend, was Neurath "sprechende Signaturen"[13] nennt. Statistische Daten werden demgem�� nicht mehr durch Diagramme, in Kurven, Torten oder S�ulen, dargestellt, sondern in gegenst�ndlicher, fig�rlicher Weise wiedergegeben: "menschengruppen werden wirklich durch menschengruppen dargestellt und produktionsmengen wirklich durch die relative anzahl ihrer abbilder."[14] Hatte Neurath den Plan der Bildstatistik nach positivistischen Prinzipien entworfen,[15] so ist es Arntz� Verdienst, diesen in eine anschauliche Bildersprache �bersetzt zu haben.[16] Dabei soll "von allem unn�tigen, von allem dekorativen abgesehen und schriftartig, einer klaren typographie �hnlich, der inhalt zur darstellung gebracht"[17] werden. Erst durch Arntz erh�lt die Bildsprache der Statistik ihr unverwechselbares Gepr�ge: er vereinfacht und vereinheitlicht die Symbole und f�hrt sie einer systematischen Verwendung zu, in der eine beschr�nkte Zahl miteinander kombinierbarer Zeichen m�glichst durch sich selbst und gem�� der Forderung Neuraths "ohne Erl�uterung"[18] verst�ndlich werden soll. Neben der Normierung der Figuren gew�hrt zudem die Einf�hrung des Linoldrucks die technische Reproduzierbarkeit der einmal entwickelten Typen.[19]

Ziel der Bildersprache ist neben der ikonischen Vermittlung gesellschaftlich relevanter Daten die Steigerung von Reflexivit�t im Medium visueller Argumentation. Die Durchschlagskraft der visuellen Argumente dank ihrer hohen Plastizit�t dient der Aufkl�rung und damit dem Antrieb zur Umgestaltung. Vorausgesetzt ist dabei freilich nicht nur die �bersetzung der Statistiken in Bilder, sondern zuvor der wissenschaftlichen Erkenntnisse in politisch relevante Aussagen.[20] In diesem dezidiert politischen Vorhaben wird einmal mehr deutlich, dass es in der Bildersprache nicht um die scheinbar objektive Abbildung gesellschaftlicher Wirklichkeit, sondern um die Konstruktion ihrer Bedeutung geht. Arntz erw�gt die "wichtigkeit der zahl und menge eines gegenstandes f�r seine bewegungsrichtung und sto�kraft in der gesellschaft"[21] und den Gebrauch der Bildsprache f�r die "aktivierung des umbildungsprozesses der weltauffassung."[22]

In seiner k�nstlerischen Arbeit war Arntz den Grunds�tzen des politischen Konstruktivismus der 1920er Jahre verpflichtet, zu denen "Techniken der Reduktion, des asketischen Verzichts auf Individualisierung, auf Einf�hlung und emotionalen Appell"[23] geh�ren. Ihr figuratives Verfahren, die Bildgegenst�nde auf ihre Umrisslinien zu reduzieren, geht einher mit der Zur�ckweisung r�umlicher Perspektive, so dass an die Stelle illusionistischer Wiedergaben das konstruktivistische Prinzip der Analogie von Bildordnung und Gesellschaftsordnung treten kann. Zudem h�tten sich die sozialen Widerspr�che in einer durch bildliche Gegens�tze gepr�gten Bildsprache zu artikulieren, in die � an der politischen Montage eines Grosz oder Dix geschult � das Prinzip der Konstellation heterogener Elemente eingegangen ist. Insbesondere der von Arntz in bewundernswerter Weise zur Artikulation gesellschaftlicher Antagonismen eingesetzte Linoldruck, �bertr�gt in der Reduktion auf den Schwarz-Wei�-Kontrast die gesellschaftlichen Widerspr�che in das bildgebende Verfahren.

Wenn aber die Darstellungsweisen den sozialen Verh�ltnissen entsprechen und der "ri� [�] in der b�rgerlichen gesellschaft"[24] bildlich aufklaffen soll, ger�t die rein zahlenm��ige Darstellungsweise der Bildstatistik schnell an ihre Grenzen. Sie droht die von Arntz ausgebildete dialektische Bildsprache zugunsten rein quantitativer Verh�ltnisse zu reduzieren. Entsprechend hat Arntz zwischen den "quantitativ-kritischen" Repr�sentationen in seiner bildstatistischen Arbeit und der "qualitativ-kritischen" Darstellungsweise in seinen sonstigen Graphiken differenziert, in denen die inhaltliche Darstellung gesellschaftlicher Widerspr�che in der antithetischen Bildstruktur ihre formale Entsprechung findet.[25]

Arntz selbst gibt zu bedenken, ob die "darstellung sozialer k�mpfe umformend wirken w�rde auf die methode selbst, die jetzt [d.h. in der Bildstatistik] in einer gewissen �objektivit�t� angewandt wird."[26] Im bildstatistischen Werk ist das die k�nstlerische Arbeit von Arntz auszeichnende Prinzip der sich in der formalen Bildgestaltung reflektierenden Bildinhalte zur�ckgenommen zugunsten des Neurathschen Entwurfes einer sich aus einem festgelegten Bestand von Piktogrammen etablierenden "Bilderschrift", von der er hofft, sie k�nne berufen sein, "einmal international verwertet zu werden!"[27] Mag sich Neurath mit der Vorstellung der transkulturellen G�ltigkeit seiner Bildersprache auch den Vorwurf des Eurozentrismus zugezogen haben,[28] so ist dennoch der Anspruch der Schriftlichkeit bemerkenswert. Das "Schaugetriebe", das dem modernen Menschen einen Gro�teil seines Wissens visuell vermittelt, und zur Ausrufung eines "Jahrhunderts des Auges"[29] berechtigt, darf nicht nur manipulativen Zwecken �berlassen werden, sondern soll in streng methodischer Form angewandt zum Element anderer Wissensformen � und infolgedessen auch einer gewandelten Lebensgestaltung � werden.[30] Daf�r muss das Bild jedoch sprachf�rmig zugerichtet werden: "Es m�ssen vor allem Bildzeichen geschaffen werden, die so �gelesen� werden k�nnen wie von uns allen Buchstaben und von den Kundigen Noten."[31] F�r solche lesbare Bilderschrift, orientiert an der �gyptischen Hieroglyphe,[32] ist der Abstraktion so weit zu folgen, dass weder die durch wiedererkennbare �hnlichkeit vermittelte Lesbarkeit gef�hrdet wird, noch die "Reize des Malerischen"[33] vom transportierten Gehalt ablenken. Preist man einerseits die Eindringlichkeit und Suggestivit�t von Bildern, so wird andererseits das Moment �sthetischer Unbestimmtheit ikonischer Repr�sentation bem�ngelt. Das Lockende der Darstellung dient zwar der Anschaulichkeit wie Memorabilit�t, gleichwohl muss jeder bildnerische �berschuss zugunsten des eindeutigen Sinngehalts gebannt werden: "Nichts ist gef�hrlicher als ein Zeichen, das manchen Besuchern mehr sagt, als man in Wirklichkeit aussagen wollte."[34] Die Ambivalenz der Neurathschen Bildtheorie liegt an dieser Stelle blo�: Zum einen sollen die Bilder ohne Worte und wie Reklame rezipierbar sein, zum anderen aber kritisches Denkverm�gen f�rdern. Aus diesem Grund bedarf es nicht nur einer Lekt�re der Bilder selbst, sondern auch der sie begleitenden Beschriftung. So wie die Entzifferung der Bilder dem Anspruch unmittelbaren Verstehens widerspricht, zeugt die Notwendigkeit zus�tzlicher Beschreibung von der gleicherma�en unerw�nschten wie unumg�nglichen Mehrdeutigkeit bildlicher Symbole. Wiederum erweist sich ein Hinweis auf Benjamin als fruchtbar, hatte dieser Bildbeschriftungen als "Direktiven" bezeichnet, die dem Betrachter eine bestimmte Aufnahme der Bilder vorschreiben.[35] Die Bilder zu sehen gen�gt nicht, sie m�ssen gelesen werden. F�r sie fungiert die Schrift zugleich als Vorschrift an das Auge. Die Festlegung der Bedeutung etabliert sich aber nach Benjamin auch interikonisch, will sagen durch die Abfolge der Bilder. Entsprechend hat Neurath mit gr��ter Strenge auf der formalen und inhaltlichen Vereinheitlichung oder Kanonisierung der neuen Bildsprache bestanden.[36] Dennoch l�sst sich der metaphorische und �sthetische �berschuss der Darstellungen nicht vollst�ndig eliminieren. Vielmehr ist der Versuch, die bildsprachliche Mehrdeutigkeit gem�� der positivistischen Zeichentheorie zu bannen, selbst zweifelhaft und bleibt dem wissenschaftlichen "Ikonoklasmus", gegen den er sich wendet, seinerseits verhaftet. Hinzu kommt, dass komplexe Sachverhalte nicht abbildlich, nur sinnbildlich zur Darstellung gelangen k�nnen. Da die Bildzeichen nicht auf �hnlichkeit beschr�nkbar sind, sondern symbolische wie allegorische Sinnh�fe bei sich tragen, ist ihre Entzifferung auf historische wie kulturelle Kontexte verwiesen. Die Dekodierung dieser Zeichen muss notfalls erlernt, eine Lekt�re der Bilder vorgenommen und ihre konnotative Bedeutung entschl�sselt werden. Widerspricht die Notwendigkeit der Entzifferung auch dem Neurathschen Diktum, die verwendeten Bildzeichen h�tten sich mit h�chstens drei Blicken dem Betrachter vollst�ndig zu erschlie�en,[37] so erm�glicht erst sie die Vermittlung einer gegen�ber Gemeinpl�tzen abweichenden Einsicht.

Dieser subversive, gegen ihre unmittelbare Verst�ndlichkeit gerichtete Zug der Bildfindung ist nun aber ein ma�gebender Gesichtspunkt f�r die Aktualisierung geworden. In der Neufassung des Atlanten waren die Zurschaustellung des historischen Index der Bildzeichen, ihr irreduzibler �sthetischer �berschuss sowie der Anspruch aktiver Interpretationsarbeit beim Rezipienten richtungsweisend. Kann man f�r den Bildatlas neben der graphischen Gestaltung die Ebene der wissenschaftlichen Datenerhebung sowie der gesellschaftspolitischen Intention differenzieren, so setzt die Neugestaltung auch kritisch gegen�ber den beiden letzteren an, indem der positivistische Wissenschaftsbegriff ebenso wie ein objektivistisches Verst�ndnis der Statistik zur�ckgewiesen und gegen�ber der sozialreformerischen Absicht einer Volksaufkl�rung Distanz genommen wird. So wie man aber Neurath zugute halten kann, dass er in Anbetracht einer zunehmend visuell bestimmten Welt es nicht vers�umt hat, die Macht der Bilder abzusch�tzen, l�sst sich auch die Neuauflage als Mittel verstehen in die "Politik der Sichtbarkeit"[38] einzugreifen. In dem Ma�e wie die visuelle Vermittlung und massenmediale Verbreitung von gesellschaftlichem Wissen �berhand genommen hat, wird die Frage nach "Produktion bzw. Kontrolle von Bildern und ihrer Bedeutungsmuster"[39] zur politisch relevanten Frage. In diesem Bilderkampf wird die Statistik entgegen ihrer scheinbaren Objektivit�t strategisch genutzt und die fragmentarische Auswahl der darzustellenden Sachverhalte wird � als bruchst�ckhaft lesbar � gegen eine Ideologie vollst�ndiger Erkennbarkeit gewendet.[40] Indem die K�nstler der Herausforderung bildstatistischer Wissensvermittlung im Element der Kunst begegnen, soll "das Gebot wissenschaftlicher Objektivit�t" zugunsten der Einmischung "in die permanente Ideologisierung"[41] zur�ckgewiesen werden. Aufgrund der nicht verleugneten Mehrdeutigkeit und Unbestimmtheit sowie der Verweigerung einer systematischen Darstellung der ausgew�hlten Datenmengen, markieren die K�nstler ihre Skepsis gegen�ber der Statistik, deren Anwendungsbereich sich � paradoxerweise auch durch Neuraths Piktogramme � von der politischen Aufkl�rungsarbeit immer st�rker in die Markt- und Meinungsforschung verlagert hat. Angesichts der als Kategorienfehler zu bezeichnenden Durchdringung aller gesellschaftlicher Felder durch �konomische Prinzipien, dient die Reformulierung politisch relevanter Fragen in der Sprache der Kunst dem Versuch, diese dem An�konomischen zuzuschlagen. Auch die Gestalt des Wissens bleibt von dieser Rekontextualisierung nicht unbenommen, da sie es mit dem Siegel einer gewissen Unverwertbarkeit[42], zumindest aber Ineffizienz beschl�gt. Die Aktualisierung des Atlanten dient weniger seiner �sthetischen Korrektur, als vielmehr einer Bef�rwortung der Strategie, Wissen in politisch relevante Bilder umzum�nzen. Sie w�re demnach einer jener "Schritte zur Flucht von der Arbeit zum Tun"[43], die sich k�nstlerisch in einer Verschiebung vom Werk zum Handeln � von der poiesis zur praxis � niederschl�gt.

Seit Jameson angesichts der zunehmenden Un�bersichtlichkeit die Notwendigkeit des "Kartographierens der Wahrnehmung und der Erkenntnis (cognitive mapping)"[44] eingeklagt hat, um angesichts konstatierter Orientierungslosigkeit "eine neue Handlungs- und Kampfesf�higkeit"[45] zur�ck zu gewinnen, l�sst sich auf eine ganze Reihe kartographischer Projekte im Kunstfeld zur�ckschauen. Dem Wunsch nach systematischer Orientierungshilfe verweigert sich jedoch die Aktualisierung des Atlas mit ihren bisher 15 Tafeln[46] zugunsten der Konfrontation mit einigen fragmentarischen Daten.[47] Die K�nstler befragen nicht nur die Objektivit�t statistischer Visualisierung, sondern thematisieren die Relativit�t karthographischer Repr�sentationen, wenn sie der Tafel Staaten und Bev�lkerung 1500 nicht etwa eine Graphik mit genaueren Daten gegen�berstellen, sondern die Reproduktion einer historischen Karte aus dem beginnenden 16. Jahrhundert einschleusen. Sie macht nicht nur das historische Weltbild anschaulich, sondern verweist auch auf den engen Zusammenhang von kartographischer Erschlie�ung des Raumes, seiner kriegerischen Eroberung und kolonialistischen Vereinnahmung. Au�erdem findet die Reflexion unterschiedlicher geographischer Repr�sentationssysteme Eingang in die Aktualisierung der Tafel Kartographische �bersicht, welche eine damals neue und f�r den Wiener Atlas ma�gebliche fl�chentreue Weltkarten-Projektion veranschaulicht. Der damaligen Innovation wird die gro�e Varianz heutiger kartographischer Entw�rfe gegen�ber gestellt, an denen sich neben neuen technischen M�glichkeiten auch die Funktionalisierungen unterschiedlicher Darstellungsformen abzeichnen.[48] In der neuen Fassung soll au�erdem die historische Signatur der Piktogramme nicht wie bei Neurath und Arntz m�glichst zur�ckgenommen, sondern ausgestellt und lesbar werden, wenn das Blatt Reall�hne 1928 in der neuen Variante �konomische Ungleichheit 2001 die Reichen als m��igg�ngerische Golfspieler darstellt, die Mittelschicht als eifrige Angestellte und die �rmsten prek�rerweise mit Einkaufst�ten abgebildet als Konsumenten identifizierbar sind. Andere Tafeln werden gem�� politischer Ver�nderungen umgestaltet, die es beispielsweise notwendig machen, Migrationsbewegungen auf eine versch�rfte Einwanderungspolitik zu beziehen. So wird aus dem Blatt Wanderbewegung wichtiger L�nder 1920-27 die Festung Europa, welche die K�nstler in zwei Tafeln visualisieren: zum einen bilden sie die Anzahl von Todesf�llen bei Fl�chtlingen, die sich auf den Wegen nach Europa und an seinen Grenzen ereignen, ab, zum anderen zeigen sie die Zunahme von Abschiebungen im Vergleich zur Zahl der Asylsuchenden aufgrund gesetzlicher Versch�rfungen in Europa. Die Thematisierung gewaltsamer Abschiebung findet sich auch in Gesellschaftsgliederung L�neburg aktuell thematisiert. Parallel zur Darstellung der Bev�lkerungsschichten, in die Studenten und Touristen ebenso aufgenommen sind wie Asylsuchende und Abschiebungen, ist ein Text gesetzt, der von angestrebten Ma�nahmen der nieders�chsischen Regierung berichtet, um die Zahl missgl�ckter Ausweisungen zu reduzieren. Auffallend f�r diese Graphik ist neben der textuellen Begleitung, dass das Neurathsche Prinzip der schnell erfassbaren Mengendarstellung unterwandert wird. Der Betrachter ist zum Lesen, Abz�hlen und Zusammenrechnen angehalten, um den Sinn der Daten zu erfassen. Die mengenlogische Visualisierung wird auf einem anderen Blatt ins scheinbar Unlesbare verschoben, wenn bei der Aktualisierung von Streiks und Aussperrungen die Symbole so schmal geraten, dass ihre zahlenm��ige Entsprechung nicht mehr rekonstruierbar ist. Das von Arntz entwickelte Bildzeichen der geballten Faust steht f�r 10 Millionen verlorene Arbeitstage und wird in dieser Ma�einheit �bernommen, um anhand der verschwindend kleinen Bruchst�cke deutlich zu machen, wie sehr die Arbeitsniederlegung als politisches Kampfmittel heute an Bedeutung eingeb��t hat. Dieser Minimierung der Bildzeichen l�sst sich als gegenl�ufiges Bildverfahren ihre extreme H�ufung zur Seite stellen. Die Veranschaulichung der Kolonialreiche bei Neurath und Arntz wurde in eine 6 Tafeln umfassende Darstellung der Reparationsforderungen der �African World Reparations / Repatriations Truth Commission" Konferenz von Durban, 31. Aug. � 8. Sept 2001 an die ehemaligen Kolonialstaaten transformiert. Sie bilden 1700 in Ketten gelegte F�uste ab, die f�r 4.800.000.000.000 Arbeitsstunden stehen, die � mit je 10 Cent verg�tet � eine Reparationszahlung von 777 Billionen US-Dollar ergeben. Die allererste Faust ist im Unterschied zu allen anderen nicht schwarz, sondern zu zweidrittel in rot gehalten und bezeichnet die abzuziehende Verschuldung Afrikas, die nun gegen�ber den erhobenen Forderungen vergleichsweise gering erscheint. Die Undarstellbarkeit des Ausma�es der kolonialen Ausbeutung einschlie�lich des Sklavenhandels, welche sich in der unermesslich hohen Summe niederschl�gt, f�hrt die ikonische Darstellung ad absurdum. W�hrend die ermittelten Zahlen demnach in einigen Graphiken, gegen die Statistik gewendet, vor allem symbolischen Wert haben, sind andere Bl�tter wie Minenproduzenten in Deutschland und Verlegte Landminen, Minenopfer, Minenpatente ob der recherchierten Informationen erw�hnenswert.[49]  Hier wird detailliert nachgezeichnet, wie trotz Verbots deutsche Firmen in Minenproduktion und Export einbezogen sind. Das zweite Blatt stellt den verlegten Minen und Opfern, aufgeschl�sselt nach L�ndern, die produzierenden Firmen und ihre minentechnischen Patente zur Seite.

In jedem Falle lohnt es sich, die angeblich schnelle Rezipierbarkeit der Bilderschrift durch eine genaue und aufmerksame Lekt�re zu ersetzen, zudem die Interpretierbarkeit der Graphiken auf die gegenseitige Erhellung von alten und neuen Tafeln angewiesen ist. Denn erst durch den zeitlichen Abstand teilen sich die wissenschaftlichen und �sthetischen Entscheidungen mit. Hier wird anschaulich, was Benjamin den "historische[n] Index der Bilder"[50] nennt. Dabei meint er weniger, "dass sie einer bestimmten Zeit angeh�ren", sondern vielmehr, "dass sie erst in einer bestimmten Zeit zur Lesbarkeit"[51] gelangen. So mag die Zusammenschau von neuen und alten Bl�ttern dem entsprechen oder das erm�glichen, was Benjamin ein dialektisches Bild nennt, in dem "das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt".[52]Dass die Zusammenstellung wie ein dialektisches Bild "den Stempel des kritischen, gef�hrlichen Moments"[53] trage, sei der weiteren Bearbeitung gew�nscht.


[1] Das Ergebnis dieser Zusammenarbeit wurde im Kunstraum der Universit�t L�neburg in einer Ausstellung pr�sentiert und findet sich in Atlas. Spaces in subjunctive, hrsg. v. Christoph Behnke, Diethelm Stoller, Anna Schlosser u. Ulf Wuggenig, L�neburg 2004, dokumentiert.

[2] Seit mehreren Jahren schon haben sich Creischer und Siekmann dem der K�lner Gruppe progressiver K�nstler zugeh�rigen Arntz verbunden gezeigt, indem sie seine Druckgraphik in die gemeinsam kuratierte Ausstellung Die Gewalt ist der Rand aller Dinge. Subjektverh�ltnisse, politische Militanz und k�nstlerische Vorgehensweisen (Generali Foundation 2002) einbezogen, und Siekmann in seine Zeichnungen direkte Bezugnahmen auf Arntz und die politische Kunst der 1920er Jahre eingearbeitet hat (vgl. die Ausstellung Aus: Gesellschaft mit beschr�nkter Haftung, Portikus, Frankfurt).

[3] Aus diesem Grund wurde darauf verzichtet, das von Neurath entwickelte bildstatistische Konzept zu revidieren, vgl. zu einem solchen Vorhaben Karl H. M�ller, Symbole, Statistik, Coputer, Design. Otto Neuraths Bildp�dagogik im Computerzeitalter, Wien 1991.

[4] So der Untertitel des bildstatistischen Elementarwerks.

[5] Damit reihen sie sich in die durch Orientierungsbed�rfnis oder Globalisierungskritik auch im Kunstfeld vermehrt auftretende Kartierungs- oder mapping-Projekte ein, vgl. beispielsweise Paolo Bianchi u. Sabine Folie (Hg.), Atlas Mapping. K�nstler als Kartographen � Kartographie als Kultur, Wien 1997 u. Belinda Grace Gardner, "Neue Landkarten f�r undurchsichtige Zeiten. K�nstler auf der Suche nach Orientierung", in: Kunstzeitung 89 (2004), S. 1.

[6] Der Atlas von Neurath und Arntz erg�nzt durch die in L�neburg erarbeiteten Bl�tter wurde von Creischer und Siekmann auch in der Ausstellung Schritte zur Flucht von der Arbeit zum Tun (6.M�rz-16.Mai 2004) Museum Ludwig, K�ln gezeigt.

[7] Otto Neurath, "Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum in Wien", in: ders., Gesammelte bildp�dagogische Schriften, hrsg. v. Rudolf Haller u. Robin Kinross, Wien 1991 (= Neurath, Bd. 3), S. 1-17; hier: S. 1.

[8] Ebd.

[9] Ebd.

[10] Ebd.

[11] Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt a.M. 1986, S. 41.

[12] In dieser Ausrichtung auf das Handeln, das auf eine exakte Darstellung der Sachverhalte zugunsten der Vermittlung von praktisch relevantem Wissen zielt, hat man die N�he Neuraths zum Pragmatismus gesehen; vgl. Thomas Mormann, "Neuraths anticartesische Konzeption von Sprache und Wissenschaft", in: Otto Neurath. Rationalit�t, Planung, Vielfalt, hrsg. v. Elisabeth Nemeth u. Richard Heinrich, Wien/Berlin 1999, S. 32-61.

[13] Neurath, Bd. 3, S. 57.

[14] Gerd Arntz, "zur methode des gesellschafts- und wirtschaftsmuseum in wien", in: a-z. Organ der Gruppe progressiver K�nstler, Heft 9 (1930), S. 34 (Reprint in: Franz W. Seifert. Schriften, hrsg. v. Uli Bohnen u. Dirk Backes, Berlin 1978)

[15] Neurath geh�rte dem Wiener Kreis an, dessen "wissenschaftliche Weltauffassung" er um das Moment des Sozialaufkl�rerischen erg�nzt, vgl. Otto Neurath, Wissenschaftliche Weltauffassung, Sozialismus und Logischer Empirismus, Frankfurt a.M. 1979.

[16] Der Beitrag von Arntz an dem Erfolg des Mappenwerks wird oftmals untersch�tzt, vgl. diesbez�glich Ulf Wuggenig, Christoph Behnke u. Diethelm Stoller, "Kunst, Gesellschaft und Wirtschaft 1930/2004", in: Atlas. Spaces in subjunctive, hrsg. v. dies. u. Anna Schlosser, L�neburg 2004, S. 6f.

[17] Arntz, "zur methode des gesellschafts- und wirtschaftsmuseum in wien", a.a.O., S. 34.

[18] Neurath, Bd. 3, S. 57.

[19] Vgl. H. U. Bohnen, Das Gesetz der Welt ist die �nderung der Welt. Die rheinische Gruppe progressiver K�nstler (1918-1933), Berlin 1976, S. 124.

[20] Vgl. Frank Hartmann, "Bildersprache", in: ders. u. Erwin K. Bauer (Hg.), Bildersprache. Otto Neurath. Visualisierungen, Wien 2002, S. 50.

[21] Arntz, "zur methode des gesellschafts- und wirtschaftsmuseum in wien", a.a.O., S. 34.

[22] Ebd.

[23] Katrin Sello, "Das herausgenommene Ich", in: Politische Konstruktivisten. Die �Gruppe progressiver K�nstler� K�ln, hrsg. v. Neue Gesellschaft f�r bildende Kunst, Berlin 1975.

[24] Gerd Arntz, "bewegung in kunst und statistik", in: a-z. Organ der Gruppe progressiver K�nstler, Heft 8 (1930), S. 29.

[25] Vgl. Flip Bool, "Figurativer Konstruktivismus und kritische Grafik von 1924 bis 1971", in: Arbeiterbildung in der Zwischenkriegszeit, a.a.O., S. 219-225.

[26] Arntz, "zur methode des gesellschafts- und wirtschaftsmuseum in wien", a.a.O., S. 34.

[27] Neurath, Bd. 3, S. 59.

[28] Vgl. Wuggenig, Behnke u. Stoller, "Kunst, Gesellschaft und Wirtschaft 1930/2004", a.a.O., S. 15.

[29] Otto Neurath, "Statistische Hieroglyphe", in: ders., Bd. 3, S. 40-50; hier: S. 40.

[30] W�hrend f�r Benjamin die Auswirkungen der neuen Bildtechniken auf die Wahrnehmungsstrukturen leitend ist, konstatiert Neurath bemerkenswerterweise  Effekte auf der Ebene der Denkvorg�nge  und Erkenntnisformen.

[31] Ebd.

[32] Vgl. Otto Neurath, "Von der Hieroglyphe zu Isotypen", in: ders., Bd. 3, S. 636-645. In Bezug auf Neuraths Verst�ndnis der alt�gyptischen Hieroglyphenschrift mu� man von einem "produktiven Mi�verst�ndnis" (Hartmann, "Bildersprache", a.a.O., S. 79) sprechen, weil Neurath die Abbildhaftigkeit der Hieroglyphen �bersch�tzt.

[33] Neurath, Bd. 3, S. 60.

[34] Otto Neurath, "Schwarzwei�graphik", in: ders., Bd. 3, S. 51-55; hier: S. 55.

[35] Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, a.a.O., S. 21.

[36] Die Systematisierung und Internationalisierung der Bildersprache schlug sich in den 1930er Jahren in der Bezeichnung ISOTYPE (International Sytem of Typographic Picture Education) nieder und wurde von Neurath nach seiner Emigration aus �sterreich in Holland gemeinsam mit Arntz fortgesetzt, vgl. diesbez�glich Hartmann, "Bildersprache", a.a.O., S. 65ff.

[37] Vgl. Neurath, Bd. 3, S. 257.

[38] Vgl. Tom Holert (Hg.), Imageneering. Visuelle Kultur und Politik der Sichtbarkeit, K�ln 2000.

[39] Siekmann, Aus: Gesellschaft mit beschr�nkter Haftung, S. 22.

[40] Angesichts dieser Fragen gab es Differenzen zwischen den K�nstlern und den Wissenschaftlern der L�neburger Arbeitsgruppe, vgl. Wuggenig, Behnke u. Stoller, "Kunst, Gesellschaft und Wirtschaft 1930/2004", a.a.O., S. 14.

[41] Alice Creischer u. Andreas Siekmann, Schritte zur Flucht von der Arbeit zum Tun, K�ln 2004, S. 62.

[42] Vgl. ebd., S. 10.

[43] So der Titel der K�lner Ausstellung, in der Atlas und Aktualisierung ebenfalls gezeigt wurden.

[44] Frederic Jameson, "Postmoderne � zur Logik der Kultur im Sp�tkapitalismus", in: Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels, hrsg. v. A. Huyssen u. K.R. Scherpe, Frankfurt a.M. 1986, S. 96.

[45] Ebd., S. 100.

[46] Vier weitere Tafeln zu Weltwirtschaft, Globalisierung und Gentechnik befinden sich in Arbeit, au�erdem soll das Projekt nach Angabe der K�nstler in verschiedenen Kooperationen fortgef�hrt werden.

[47] Hierin lie�e sich auch ein Unterschied zu dem sich ebenso kritisch wie politisch verstehende Atlas der Globalisierung von Le monde diplomatique ausmachen, vgl. diesbez�glich das Interview von Creischer und Siekmann mit dem verantwortlichen Redakteur Philippe Rekacewicz, in: Schritte zur Flucht von der Arbeit zum Tun, a.a.O., S. 41-43.

[48] Vgl. Larissa Buchholz u. Sophia Prinz, "Kartografische Repr�sentationen", in: Atlas � spaces in subjunctive, a.a.O., S. 32-36.

[49] Die Graphiken antworten auf das Blatt R�stungen vor dem Kriege und jetzt des Wiener Atlas.

[50] Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, Gesammelte Schriften, Bd. V.1, Frankfurt a.M. 1991, S. 577.

[51] Ebd.

[52] Ebd., S. 578.

[53] Ebd., S. 578.

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